Mein Herz ruft deinen Namen
Bücherständen, um in den Texten gänzlich unbekannter Autoren zu stöbern. »Man kann wahre Perlen finden«, wiederholtest du oft, »im Staub der Bücherregale vergessene Perlen.« In der Tat, wenn du von deinen Streifzügen zurückkamst, glichst du einem Perlenfischer oder Goldsucher; du öffnetest deine Tasche und zogst nacheinander vorsichtig deine kostbaren Funde heraus. Ich betrachtete sie und begriff manchmal deine Auswahl nicht, fand sie bizarr. Dann fingst du an zu lachen: »Du hast recht, dieses Buch ist wirklich absurd«, aber das hielt dich nicht davon ab, es zu lesen.
An manchen Abenden jedoch, während die Küchenuhr die Stunden maß, schwebten die Worte, die du soeben gelesen hattest, noch zwischen uns in der Stille des Zimmers; es waren keine einfachen Worte mehr, sondern Juwelen, Rubine, Smaragde, Diamanten, Aquamarine, die um uns herumtanzten und unsere Gesichter leuchten ließen. In solchen Augenblicken schlug die Dichtung eine Brücke zwischen uns. Dort auf der Brücke konnten wir uns treffen. Unter uns, rund um uns floss der Fluss des Geheimnisses. Und gerade dieses Geheimnis gab uns die Sicherheit, dass unsere Liebe stärker sein würde als der Tod.
»Die Gedichte stoßen kleine Fenster in den Tagen auf«, sagtest du oft, »unter dem Grau des Alltags zeigen sie uns den Schimmer einer anderen Wirklichkeit. Man braucht sie, um nicht aufzugeben.«
Aufgeben hieß für dich, sich einzuengen, von der Banalität der Zeit gedrängt zurückzuweichen, bis man sich im Käfig der leblosen Gesten, der schon gesagten Worte, der schon getanen Dinge wiederfand.
Erst Jahre später habe ich verstanden, dass es in deinem Geist, neben der Realität, die für jedermann sichtbar war, noch eine andere gab, die du ›Lichtrealität‹ nanntest. Als ich dich eines Tages danach fragte, hast du genickt.
»Ja, aber gibt es hier unten denn kein Licht?«, fragte ich dich perplex.
Du spieltest mit einer Feder, ließest sie fallen, pustetest darauf, und sie flog wieder.
»Gewiss, doch dort oben ist immer Licht«, antwortetest du mir lächelnd.
Wie viele Jahre habe ich gebraucht, um diese Bemerkung von dir zu verstehen. Wie viele Stürze, wie viele Spalten, wie viele Abgründe haben meine Schritte überwinden müssen, bevor es mir gelang, ein klein wenig Helligkeit zu sehen.
In der Welt, in der das Licht immer leuchtet, gibt es keine Nacht, doch der Weg, der zu dieser Welt führt, ist so dunkel, glitschig und zäh wie ein Erdölstrom.
Das Öl kommt aus dem Bauch der Erde.
Und woher kommt die Dunkelheit unseres Herzens?
Steigt auch sie aus diesem glühenden Bauch herauf?
Und die Dunkelheit unseres Geistes?
Warum wird uns dann bei der Geburt keine Laterne in die Hand gedrückt?
Abgesehen von der ersten Erfahrung bei den Großeltern, war meine religiöse Erziehung vernachlässigbar. Mein Vater betrachtete sich, wie du weißt, als Freigeist, aber er war nicht antiklerikal. Er fand es richtig, die Kinder in festgefügten Bahnen gehen zu lassen, an deren Ende sie sich aber frei entscheiden konnten. »Fürchtest du nicht, dass sie ihn einer Gehirnwäsche unterziehen?«, warnte ihn ein guter Freund. Mein Vater begann zu lachen: «Für eine Gehirnwäsche braucht es ganz andere Methoden.«
Er hatte recht. Die Winternachmittage, die ich damit verbrachte, die eiskalten Bänke des Gemeindesaals zu wärmen, stellten gewiss keine Gefahr für meinen jungen Geist dar. Die natürliche religiöse Erziehung, die ich bei den Großeltern genossen hatte, hätte in jenem kalten Raum ihre Bestätigung und Vollendung finden sollen, doch es geschah genau das Gegenteil; in jenen endlosen Nachmittagen begann das, was ich bei den Großeltern gelernt hatte, sich aufzulösen. Unterschiedliche Dinge haben dazu beigetragen, doch ausschlaggebend war bestimmt, dass ich merkte, welch großer Bruch zwischen der Welt der Realität und jener des Wortes bestand.
In meinem Denkstübchen, während jener Sommer bei den Großeltern, fragte ich mich viele Dinge, doch war es stets die Realität, die mir die Fragen eingab; und wenn die Großmutter mittags das Angelus wiederholte oder der Großvater vor dem Essen kurz die Speisen segnete, schien mir das alles völlig normal, so wie ich sie im Juni auch spontan in die Kirche begleitete zu den Bittgottesdiensten für die Ernte. Ihre Welt war einfach, an den Rhythmus der Jahreszeiten und die Launen des Wetters gebunden – Danken und Segnen schienen selbstverständlich. Da war unser Leben und das Leben derer,
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