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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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nicht). In diesem Augenblick wurde in mir eine seit der Kindheit, seit damals – der Kindheit – verlorene Erinnerung wach, etwas Geringes, Zartes, das verlorengehen muss, jene bedeutungslosen Szenen, die flüchtig wiederkehren, wie geträllerte Melodien oder Einbildungen oder ein rasches gegenwärtiges Wahrnehmen dessen, was vergangen ist, die eigene Erinnerung kommt mit Zweifeln behaftet, während man sich an sie erinnert. Ich spielte allein mit meinen Bleisoldaten in der Wohnung meiner Großmutter aus Havanna, und sie fächelte sich, wie so viele Sonnabendnachmittage, an denen meine Mutter mich bei ihr ließ. Aber dieses Mal war meine Mutter krank, und es war Ranz, der mich kurz vor dem Abendessen abholte. Ich sah sie selten zusammen, meinen Vater und meine Großmutter, immer war meine Mutter da, die vermittelte oder in der Mitte stand, aber jenes Mal nicht. Die Klingel ertönte in der Dämmerung, und ich hörte die Schritte von Ranz, die durch den endlosen Flur näher kamen, hinter denen des Dienstmädchens, bis zu dem Zimmer, in dem ich mich mit meiner Großmutter befand und das letzte Spiel beendete, während sie murmelte und trällerte und manchmal über meine Äußerungen lachte, so wie Großmütter für nichts und wieder nichts vor ihren Enkeln lachen. Ranz war damals noch jung, obwohl er mir nicht so vorkam, er war ein Vater. Er trat ins Zimmer mit dem über die Schultern geworfenen Mantel, in der Hand die gerade ausgezogenen Handschuhe, es war kühl, es war Frühling, meine Großmutter fing immer vor der Zeit an, sich zu fächeln, vielleicht ihre Art, den Sommer herbeizurufen, oder aber sie fächelte sich zu allen Jahreszeiten. Bevor Ranz etwas sagte, fragte sie ihn sofort: ›Wie geht es Juana?‹ – ›Besser, scheint es‹, sagte mein Vater, ›aber ich komme jetzt nicht von zu Hause.‹ – ›Ist der Arzt schon da gewesen?‹ – ›Als ich gegangen bin, noch nicht, er hat Bescheid gesagt, dass er erst spät kommen könnte, vielleicht ist er jetzt da. Wir können anrufen, wenn du willst.‹ Sicher sagten sie noch mehr, oder vielleicht riefen sie an, aber meine Erinnerung (Custardoy an einem Tisch gegenübersitzend) konzentrierte sich auf das, was meine Großmutter meinem Vater wenig später sagte: ›Ich verstehe nicht, wie du es fertigbringst, herumzugehen und dich mit deinen Angelegenheiten zu beschäftigen, während Juana krank ist. Ich weiß nicht, warum du nicht zu beten anfängst und die Daumen drückst jedes Mal, wenn deine Frau eine Erkältung hat. Du hast schon zwei verloren, mein Sohn.‹ Ich erinnerte mich oder glaubte mich zu erinnern, dass meine Großmutter sofort die Hand zum Mund hob, meine Großmutter hielt sich einen Augenblick lang den Mund zu, als wollte sie verhindern, dass die Worte aus ihm kämen, die schon aus ihm gekommen waren und die ich gehört hatte und denen ich damals nicht die geringste Beachtung schenkte, oder vielleicht schenkte ich sie ihnen nur – wie sich jetzt erweist –, weil sie sich den Mund zuhielt, um sie zu unterdrücken. Mein Vater antwortete nicht, und erst jetzt bekommt diese vor fünfundzwanzig Jahren oder mehr ausgeführte Geste einen Sinn, oder besser gesagt, sie bekam ihn vor fast einem Jahr, während ich Custardoy gegenübersaß und daran dachte, dass er gesagt hatte: ›Dreimal ist viel Zufall‹, und sich berichtigt hatte, und ich mich dann erinnerte, dass meine Großmutter ihrerseits gesagt hatte: ›Du hast schon zwei verloren, mein Sohn‹, und es bereut hatte. Sie hatte Ranz, ihren zweimaligen oder doppelten Schwiegersohn, ›mein Sohn‹ genannt.
    Ich insistierte nicht weiter gegenüber Custardoy, ich wollte in jenem Augenblick nicht mehr wissen, und außerdem war er schon zu etwas anderem übergegangen.
    »Hast du Lust auf die zwei da?«, sagte er plötzlich. Er hatte sich fast ganz umgedreht und schaute ungehemmt und unverhohlen die Dreißigjährigen an, die ihrerseits den direkten, wimpernlosen und auseinanderstehenden Blick registrierten und plötzlich leiser sprachen oder momentan gar nicht sprachen, da sie sich beobachtet und beachtet oder vielleicht sexuell bewundert fühlten. Ihr letzter Satz vor der Unterbrechung oder der Dämpfung, ausgesprochen von derjenigen, die uns den Rücken zuwandte, war fast mit der Frage Custardoys zusammengetroffen, vielleicht hatten sie sie trotz der raschen Aufeinanderfolge gehört. Custardoy hatte mich bestimmt gefragt, damit sie ihn hörten, damit sie Bescheid wussten, damit sie unterrichtet

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