Mein Herz so weiß
warum. Wenn es etwas zu wissen gibt über jemanden, den ich kenne, möchte ich es wissen. Außerdem ist es dein Vater. Und jetzt ist er mein Schwiegervater, wie kann es mich da nicht interessieren, was ihm passiert ist? Mehr noch, wenn er es verheimlicht hat. Wirst du ihn fragen?«
Ich zögerte eine Sekunde. Ich dachte, dass ich gerne wissen würde, nicht so sehr, was geschehen war, sondern ob Custardoys Worte Wahrheit oder Einbildung oder Gerücht enthielten. Aber wenn es Wahrheit wäre, würde ich weiter fragen müssen.
»Ich glaube nicht. Wenn er mir nie etwas davon hat erzählen wollen, werde ich ihn jetzt nicht dazu zwingen. Einmal, vor nicht sehr vielen Jahren, habe ich ihn nach meiner Tante gefragt, und er hat mir gesagt, er habe keine Lust, vierzig Jahre zurückzugehen. Er hat mich fast aus dem Restaurant geworfen, in dem wir uns befanden.«
Luisa lachte. Fast alles kam ihr amüsant vor, normalerweise sah sie nur die amüsante Seite, die alle Dinge haben, sogar die erschütterndsten oder schrecklichsten. Mit ihr leben heißt in der Komödie leben, das heißt in ewiger Jugend, ebenso wie das Leben mit Ranz, vielleicht wollten deshalb zwei Frauen mit ihm leben oder drei. Aber sie ist wirklich jung und kann sich mit der Zeit ändern. Auch ihr gefiel mein Vater, er amüsierte sie. Luisa würde ihm zuhören wollen.
»Ich werde ihn fragen«, sagte sie.
»Tu das bloß nicht.«
»Mir würde er es erzählen. Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander. Vielleicht hat er dir seine Geschichte nie erzählt, weil er nicht wusste, wie er es machen sollte, oder du hast ihn nicht richtig gefragt. Ich wüsste, wie ich es anstelle, dass er sie mir erzählt.«
Auf dem Bildschirm hantierte Jerry Lewis jetzt mit einem Staubsauger. Der Staubsauger war wie ein kleiner Hund und zeigte sich widerspenstig.
»Und wenn es etwas ist, das sich nicht erzählen lässt?«
»Was meinst du damit? Alles lässt sich erzählen. Man braucht nur anzufangen, ein Wort nach dem anderen.«
»Etwas, das man nicht mehr erzählen darf. Etwas, für das die Zeit vorbei ist, jede Zeit hat ihre eigenen Erzählungen, und wenn man die Gelegenheit vorbeigehen lässt, dann ist es bisweilen besser, für immer zu schweigen. Die Dinge verjähren und sind dann nicht mehr angebracht.«
»Ich glaube nicht, dass für irgendetwas die Zeit vergeht, alles ist da und wartet darauf, dass man es zurückholt. Außerdem erzählen alle gerne ihre Geschichte, selbst die, die keine haben. Die Erzählungen unterscheiden sich zwar, aber die Bedeutung ist dieselbe.«
Ich drehte mich ein wenig, damit ich sie mehr von vorne sehen konnte. Sie würde immer da sein, an meiner Seite, das ist zumindest die Vorstellung, als Teil meiner Geschichte, in meinem Bett, das nicht eigentlich mein Bett, sondern das unsere ist, oder vielleicht ihres, und ich bereit, geduldig auf die Stunde ihrer Rückkehr zu warten, wenn sie einmal gehen würde. Ich berührte ihre Brust mit meinem Arm, als ich mich bewegte, nackt ihre Brust unter dem leichten Stoff, ein wenig sichtbar unter diesem Stoff. Mein Arm blieb so liegen, dass die Berührung fortdauerte, um sie zu unterbrechen, müsste Luisa sich jetzt bewegen.
»Sieh mal«, sagte ich, »Menschen, die lange Zeit ein Geheimnis hüten, tun das nicht immer aus Scham oder um sich selbst zu schützen, manchmal tun sie es, um andere zu schützen oder um Freundschaften zu bewahren oder Liebesbeziehungen oder Ehen, um ihren Kindern das Leben erträglicher zu machen oder ihnen eine Angst zu nehmen, gewöhnlich hat man schon genug. Es kann sein, dass sie die Welt schlicht nicht um die Erzählung einer Tatsache bereichern wollen, die besser nicht geschehen wäre. Wenn man etwas nicht erzählt, dann löscht man es ein wenig aus, vergisst es ein wenig, leugnet es, wenn man seine Geschichte nicht erzählt, kann das ein kleiner Gefallen sein, den man der Welt erweist. Das muss man respektieren. Vielleicht würdest du nicht gern alles von mir wissen, vielleicht wirst du im Lauf der Zeit, später, auch nicht wollen, dass ich alles von dir weiß. Du würdest nicht wollen, dass ein Kind von uns alles über uns wüsste. Über uns als Einzelne, zum Beispiel, bevor wir uns kennenlernten. Nicht einmal wir wissen alles über uns, weder als Einzelne vorher noch zusammen jetzt.«
Luisa rückte ein wenig ab in einer
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