Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
ich heute Morgen, bevor ich das Buch gelesen habe, an Zach gedacht hatte. Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein.
»Er erzählt jedem, dass sie ihm einen richtigen Burger anstatt eines vegetarischen untergejubelt hat, und dass sein Organismus das nicht verkraftet hat. Angeblich kann er sich nicht erinnern, irgendwas mit ihr angestellt zu haben.«
»Muss ja erstklassiges Rindfleisch gewesen sein«, murmle ich. Kurz bemühe ich mich, Zach hinterherzutrauern, meinem potenziellen Schwarm, der jetzt eine echte Freundin hat, aber ich kann nur an Oliver denken.
»Ich muss dir was sagen«, beichte ich.
Jules blickt mich an, plötzlich ernst.
»Ich habe dieses Buch gelesen, und es … hat sich irgendwie verändert.«
»Ich verstehe genau, was du meinst«, entgegnet Jules. »Als ich Angriff der Killertomaten zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass mein Leben von nun an anders sein würde.«
»Nein, nicht ich habe mich verändert – das Buch hat sich verändert.« Ich greife in meinen Rucksack, ziehe das Märchenbuch heraus und schlage gleich die letzte Seite auf. »Schau.«
Der Prinz? Steht dort, wo er immer steht.
Die Prinzessin? Dito.
Frump? Wedelt fröhlich mit dem Schwanz.
Das Schachbrett?
Fehlanzeige.
Vor nicht mal einer halben Stunde war es noch da und auf einmal ist es weg.
»Delilah?«, fragt Jules. »Geht es dir gut?«
Ich spüre, wie mir der kalte Schweiß ausbricht. Ich klappe das Buch zu und schlage es wieder auf; damit ich klar sehen kann, zwinkere ich mehrmals.
Nichts.
Ich stopfe das Buch wieder in meinen Rucksack und schließe den Spind. »Ich, ähm, ich muss los«, sage ich zu Jules und schiebe mich an ihr vorbei, als es gongt.
Nur damit ihr es wisst, ich lüge nicht. Ich klaue nicht. Ich schwänze nicht. Kurz gesagt, ich bin die perfekte Schülerin.
Und dadurch wird das, was ich gleich tue, noch schockierender. Ich drehe mich nämlich um und gehe in Richtung Turnhalle, obwohl ich in der ersten Stunde eigentlich im Klassenzimmer sein sollte.
Ich, Delilah McPhee.
»Delilah?« Als ich aufblicke, steht der Direktor vor mir. »Solltest du nicht im Klassenzimmer sein?«
Er lächelt mich an. Auch er traut mir nicht zu, dass ich schwänze.
»Ähm … Ms Winx hat mich gebeten, in der Turnhalle bei Mr Morris ein Buch zu holen.«
»Oh«, meint der Direktor. »Ausgezeichnet!« Er winkt mich weiter.
Einen Augenblick starre ich ihn nur an. Ist es wirklich so einfach, eine andere zu werden? Dann beginne ich zu laufen.
Erst im Umkleideraum halte ich an. So früh am Morgen wird er leer sein, das weiß ich. Ich setze mich auf eine Bank, hole das Buch aus dem Rucksack und schlage es erneut auf.
Echte Märchen sind nichts für Zartbesaitete. Kinder werden von Hexen gefressen und von Wölfen gejagt; Frauen fallen ins Koma und werden von bösen Verwandten misshandelt. Aber am Schluss haben sich all die Schmerzen und Qualen irgendwie gelohnt, denn es gibt immer ein Happy End. Plötzlich ist es nicht mehr wichtig, ob man in Französisch in diesem Halbjahr eine Zwei minus bekommt oder ob man das einzige Mädchen an der Schule ist, das noch keinen Partner für den Frühjahrsball hat. Das Happy End stellt alles andere in den Schatten. Aber wenn sich dieses Happy End nun verändert ?
Bei meiner Mutter ist es so gewesen. Irgendwann einmal hat sie meinen Dad geliebt, sonst hätten sie nicht geheiratet – aber jetzt will sie nicht einmal mit ihm reden, wenn er mich an meinem Geburtstag oder an Weihnachten anruft. Vielleicht irrt sich ja auch das Märchen und der letzte Satz sollte eigentlich lauten: Manchmal trügt der Schein .
Immer noch kein Schachbrett im Sand.
Hektisch blättere ich die Seiten durch. Auf den meisten Bildern ist Prinz Oliver nicht allein, sondern mit jemandem zusammen – seinem Hund, dem Bösewicht Rapscullio, Prinzessin Seraphima. Aber auf einer Illustration ist nur er zu sehen.
Das ist mein Lieblingsbild.
Es befindet sich ziemlich am Ende der Geschichte, nachdem er den Drachen Pyro überlistet und das Scheusal in der Obhut von Kapitän Crabbe und den Piraten gelassen hat. Danach verfrachten die Piraten Pyro auf das Schiff, Oliver bleibt allein am Strand zurück und blickt die Steilklippe zum Turm empor, in dem Seraphima gefangen gehalten wird. Auf dem Bild auf Seite 43 beginnt er hinaufzuklettern.
Ich hebe das Buch hoch, um Oliver besser sehen zu können. Die Darstellung ist farbig, sein pechschwarzes Haar vom Wind zerzaust, seine Armmuskeln angespannt von der
Weitere Kostenlose Bücher