Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Hufeisen bekommt. Sie will, dass ich schweige, wenn ihre Mutter in der Nähe ist; aber dann wiederum wird sie wütend, wenn ich zu ihrer Freundin Jules nichts sage. Ehrlich, ich weiß nicht, was sie diesmal wirklich von mir will.
»Oliver!«, stöhnt Delilah. Sie wendet sich dem Mann zu. »Ich weiß nicht, warum er jetzt nichts sagt.«
»Und was empfindest du dabei?«, fragt der Mann.
Sie beugt sich tiefer über mich. »Oliver«, flüstert Delilah. » Sprich !«
Ich spüre, wie ihr Atem mir die Haare zerzaust. Anscheinend will sie, dass ich spreche, aber vielleicht ist es auch nur ein Trick. Und außerdem ist Delilah, selbst wenn ich so laut brülle, wie ich kann, der einzige Mensch, der mich jemals klar und deutlich vernommen hat. Ich will lieber vorsichtig sein und meiner Linie treu bleiben, damit Delilah nicht für komplett verrückt erklärt wird.
Ich rühre mich nicht von der Stelle und halte brav den Mund.
»Na schön. Probieren wir es mit dieser Szene«, sagt Delilah und blättert im Buch. Ich taumle seitwärts, stoße gegen mehrere Bäume, ein y und Socks’ beachtliches Hinterteil, bevor ich auf der letzten Seite in Seraphimas Armen lande. Ihre Lippen sind auf die meinen gedrückt und ihr Körper schmiegt sich ganz fest an mich. Die übrigen Figuren stehen im Halbkreis um uns herum. Ich verdrehe die Augen, um über mir das berühmte letzte Wort lesen zu können: ENDE .
»Hmmm, sehen wir uns das noch mal an«, sagt Delilah mit honigsüßer Stimme und blättert ein paar Seiten zurück. Dieses Mal rutsche ich über das glitschige Deck des Piratenschiffs, falle platschend in die eisigen Fluten und mein Wams verfängt sich am K des Wortes Kapitän . Dann finde ich mich einem wütenden Drachen gegenüber.
Vor seiner kieferorthopädischen Behandlung.
Pyro hat kaum Zeit, mir einen Feuerstrom entgegenzublasen, da schlägt Delilah schon wieder die letzte Seite auf und schleudert mich erneut in Seraphimas feuchten Kuss.
Das macht sie mit voller Absicht. Na, was die kann, kann ich schon lange. Ich umfasse Seraphima noch fester und küsse sie, als … als … nun ja, als wäre sie Delilah.
Seraphima schmiegt sich an mich, ihre Augen werden ganz groß.
Zwei Mal springt Delilah noch zwischen der Szene mit Pyro und der letzten Buchseite hin und her. Als Seraphima sich mir in Erwartung des vierten Kusses entgegenreckt, kann ich nicht mehr so tun, als machte es mir Spaß. Sie fällt mich regelrecht an, und hinter mir kann ich hören, wie Frump ein ganz leises Jaulen entfährt.
Es reicht. Jetzt werde ich alles sagen, was Delilah von mir verlangt.
»Ich gebe auf«, rufe ich, und sofort wendet sich Delilah an den fremden Mann.
»Haben Sie das gehört?«, fragt sie und lässt das Buch aufklappen, gnädigerweise an der Stelle mit Pyro und nicht an der mit Seraphima.
»Du hast etwas gehört?«, fragt der Mann zurück.
»Sie etwa nicht?«, entgegnet Delilah.
Pyro stößt kleine Rauchwolken aus.
Es ist ein ganz seltsames Gefühl, wenn einem Worte aus der Kehle gezogen werden wie Wasser aus einem Brunnen, als könnte man nichts dagegen tun. Ich weiß, dass Delilah und dieser Mann, wenn sie die Geschichte lesen, genau diese Worte im Kopf haben werden. »Warte!«, schreie ich. Mein Mund formt die Sätze, die ich schon hundertmal gesagt habe. »Ich bin nicht gekommen, um gegen dich zu kämpfen. Ich bin hier, um dir zu helfen!«
Die Schuppen des Drachen glitzern im hellen Sonnenlicht. Er richtet sich zu seiner vollen Größe von vier Metern auf und knirscht mit den Zähnen, während er einen Schritt nach vorn macht. Er rülpst, aus seinen Nüstern sprühen Funken.
Ich kann den Blick nicht von Pyros Maul abwenden, von dem Rauch, der durch seine Lippen strömt. Noch eine Zeile, dann wird er einen Feuerball ausstoßen, der einen Baum neben mir in Brand setzen wird.
Plötzlich merke ich: Das ist meine Chance!
Pyros Riesenkiefer öffnet sich und ein lodernder Strahl schlängelt sich seine Zunge herab. Ich greife nach dem Märchenbuch, das ich Rapscullio geklaut habe, halte es in die Höhe, um mein Gesicht zu schützen, und springe nach vorn, sodass die Flammen mich verschlingen.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist Delilahs Schrei.
D elilah
Von der Couch in Dr. Ducharmes Büro aus blickt man auf ein Riesenaquarium voller tropischer Fische. Ich weiß, dass das schön sein soll, oder entspannend, aber mich deprimiert es nur. Ich bin ganz sicher, dass sie alle lieber irgendwo in der Karibik herumschwimmen
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