Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
der das wirkliche Leben und die Geschichte nicht auseinanderhalten kann, ist Rapscullio eine ständige Bedrohung.
»Rapscullio!«, keucht Seraphima. »Was ist, wenn er mich findet?«
»Schnell – lauf weg!« Ich reiße mich zusammen und drücke ihr einen hastigen, festen Kuss auf die Lippen. »Dein Leben zählt mehr als das meine. Ich komme nach, so schnell ich kann. Frump, du bringst Seraphima in Sicherheit, ja?«
Frump lächelt zögernd. »Es wird mir eine Ehre sein, Majestät«, sagt er. »Meine Dame?« Er streckt ihr eine Pfote hin, die Seraphima nach anfänglichem Zögern nimmt.
Ich sehe ihnen nach, wie sie über die Wiese davoneilen, eine Prinzessin mit Wahnvorstellungen, die Realität und Fiktion nicht trennen kann, und ein liebeskranker Basset. Tja, man hat wahrscheinlich schon seltsamere Paare gesehen. »Viel Glück«, flüstere ich Frump hinterher, obwohl ich weiß, dass er mich nicht mehr hören kann. »Ich werde dich vermissen, falls ich je hier rauskomme.«
Nicht falls , ermahne ich mich dann. Wenn .
Während ich mir frische Kleider anziehe, denke ich über die scheinbaren Unstimmigkeiten nach, die mein Leben innerhalb dieses Buches aufweist. Warum habe ich einen ganzen Schrank voller Waffenröcke und Wamse, in denen ich jedoch nie zu sehen bin? Genauso wie Frump, von dem es heißt, er sei einmal ein Junge gewesen, der aber nie als dieser auftritt. Warum ist der Stall, in dem Socks wohnt, voller Gänse und Hühner und Kühe, die im Märchen ansonsten keine erkennbare Rolle spielen? Wieso begreift Seraphima nicht, dass sie nicht diejenige bleiben muss, deren Rolle sie spielt? Das sind Widersprüche, die ich nicht verstehe und über die ich mir, ehrlich gesagt, auch noch nie Gedanken gemacht habe. Bis ich Delilah getroffen habe.
Das alles geht mir durch den Kopf, als ich plötzlich höre, wie Frump Alarmstufe Rot ausruft. »Sämtliches Märchenpersonal sofort zu den Ställen«, befiehlt er. »Ich wiederhole, dies ist ein Ernstfall – keine Übung!«
Auf dem Weg die Schlosstreppen hinunter stoße ich fast mit der Königin zusammen. »Oliver, mein Lieber«, sagt sie. »Hast du eine Ahnung, was da los ist?«
Habe ich nicht. Aber das Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Hände zittern … und ich hoffe inständig, dass all dies nichts mit mir und Delilah zu tun hat. Hat Rapscullio das fehlende Buch entdeckt? Haben die Feen aus unserem Gespräch vorhin mehr Schlüsse gezogen, als mir lieb ist? »Ich weiß es nicht«, erkläre ich der Königin. »Aber gut klingt es nicht.«
Je weiter wir uns den Stallungen nähern, desto weniger gut klingt es. Ein wildes Schnauben ist zu hören, dazu tiefe Grunzlaute. Über unseren Köpfen verrät ein silbriger Lichtschein, dass das Buch gleich aufgeschlagen werden wird. Aber wenn das der Fall ist, wieso rennen wir dann alle hier durch die Gegend?
Als einer der Hauptpersonen gelingt es mir, mich durch die Menge zur offenen Stalltür zu schieben. Dort läuft Frump im Heu auf und ab, während Hühner aufgeregt flatternd auseinanderstieben, um sich vor ihm zu retten. »Frump, was ist los?«, frage ich.
Er dreht sich um. »Gott sei Dank bist du da!« Er späht hinauf zu dem Stückchen Himmel, das größer wird. »Es geht um Socks. Er will streiken.«
»Streiken?«
»Ja, streiken. Er weigert sich, beim nächsten Mal, wenn die Geschichte erzählt wird, aus seinem Stall zu kommen.«
Ich zögere. Niemand in dieser Geschichte hat sich je dagegen gewehrt, dass sie erzählt wird. Jedes Mal, wenn das Buch sich öffnet, eilen alle Darsteller auf ihre Plätze. Ich bin meines Wissens der Einzige, der sich irgendwie widersetzt hat – und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das Buch selbst für Ordnung sorgen und Socks an seinen Platz befördern wird, ob er nun will oder nicht. Doch wenn ich das ausplaudere, verursache ich damit noch größeren Wirbel, weil dann alle merken, dass auch ich aktiv Widerstand gegen das Buch geleistet habe.
»Was kann denn schlimmstenfalls passieren?«, frage ich leichthin. »Ich wäre ohne ein treues Ross. Das wird kein Mensch je bemerken.« Das wird kein Mensch je bemerken , denke ich, weil Socks, sobald es auf Seite 1 losgeht, gegen seinen Willen dorthin gezerrt werden wird, wo er hingehört .
»Das Risiko können wir nicht eingehen. Wir müssen Zeit gewinnen.« Frump deutet mit der Schnauze in eine Ecke der Scheune, wo Orville hoch oben auf einer Leiter balanciert und seinen Zauberstab auf den hellen Spalt richtet. »Obscurius
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