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Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Titel: Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult , Samantha van Leer
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sehen, wie er sich windet.
    Geschieht ihm recht.
    »Hast du Schwierigkeiten, zwischen … sagen wir, einem Traum, den du letzte Nacht hattest, und der Realität zu unterscheiden?«, will der Doktor wissen.
    »Ich habe mir das nicht ausgedacht«, beharre ich. »Hmmm, sehen wir uns das noch mal an.« Wütend blättere ich zwischen der Szene, in der Oliver gegen den Drachen kämpft, und der letzten Seite hin und her. Bilde ich es mir nur ein oder küsst er Seraphima tatsächlich so, als hätte er Freude daran?
    Aufgebracht öffne und schließe ich das Buch noch mehrmals.
    Dann, leise:
    »Ich gebe auf .«
    »Haben Sie das gehört?«, rufe ich aus.
    »Du hast etwas gehört?«, fragt der Mann.
    Oliver. Ich habe Oliver gehört, klar und deutlich. »Sie etwa nicht?«, frage ich, aber die Antwort weiß ich schon vorher. Oliver hat mir erzählt, dass ich in den vielen Jahren, die er schon in diesem Märchen lebt, die erste Leserin bin, die je zugehört hat.
    Der Psychiater nimmt mir sanft das Buch aus der Hand und legt es auf den Beistelltisch zwischen uns, immer noch auf der Seite aufgeschlagen, wo Oliver Pyro Auge in Auge gegenübersteht.
    »Delilah«, sagt er ruhig. »Ich weiß, dass es manchmal einfacher ist, in einer Scheinwelt zu leben, als sich mit der Realität auseinandersetzen zu müssen.«
    »Das ist keine Scheinwelt!« Ich blicke verstohlen auf das Buch hinunter und reiße die Augen auf. Irgendetwas stimmt nicht, ganz und gar nicht. Mein Blick fällt auf den Text gegenüber der Illustration.
    » Warte! « , schrie Oliver. » Ich bin nicht gekommen, um gegen dich zu kämpfen. Ich bin hier, um dir zu helfen! «
    Drohend trat der Drache einen Schritt vorwärts.
    Weil ich dieses Buch schon hundert Mal gelesen habe, weiß ich, was als Nächstes geschieht. Pyro faucht und setzt einen Baum in Flammen. Jetzt aber steht etwas anderes da:
    Als Pyro fauchte, stürzte sich Prinz Oliver Hals über Kopf in den Feuerball.
    »Oliver!«, brülle ich. »Nein!«
    Die Illustration gerät in Bewegung und setzt sich neu zusammen, wie ein Teich, in den man einen Stein geworfen hat. Mit eigenen Augen sehe ich, wie Oliver bei lebendigem Leib verbrennt, während der Drache hinter ihm das Haupt reckt.
    Ich greife nach dem Buch, denn ich will es zuschlagen, doch es versengt mir die Finger. »Autsch! Sie müssen ihm helfen«, schluchze ich und packe den Psychiater am Ärmel. »Bitte. Bevor es zu spät ist …«
    Dr. Ducharme legt mir eine Hand auf die Schulter. »Es ist alles in Ordnung, Delilah. Atme ein paarmal tief durch.«
    Ich tue, was er mir rät, kann die Augen aber nicht von dem Buch abwenden, das hinter ihm auf dem Tisch liegt. An den Rändern der Seiten ist es glutrot, wie Kohle.
    »Ich hole für die letzten paar Minuten deine Mutter zu uns herein«, schlägt Dr. Ducharme vor. »Geht es dir jetzt besser?«
    Ich nicke. Kaum setzt er den Fuß aus seinem Büro, geht das Buch in Flammen auf.
    Oh mein Gott! Ich schnappe mir meine Jacke und benutze sie als überdimensionalen Topflappen, um das Buch vom Tisch zu reißen und in das Riesenaquarium zu werfen. Zwei knallbunte Fische wuseln aus dem Weg, als es zischend auf den mit künstlichen Steinchen bedeckten Boden sinkt. Luftblasen steigen auf.

    Mit einem zaghaften Lächeln mache ich mir klar, dass ich den Prinzen gerettet habe anstatt umgekehrt.
    Das Buch ist tropfnass, also halte ich es über das Aquarium, während ich Seite 43 aufschlage. Oliver ist gesund und körperlich unversehrt – wenn auch ein bisschen feucht. Ich erinnere mich, dass auch meine Tränen schon auf ihn niedergeplatscht sind; was auch immer uns trennt, Flüssigkeiten lässt es offenbar durch.
    »Was sollte das denn? Wolltest du dich umbringen?«, schreie ich.
    »Erraten«, sagt Oliver und zieht dabei den Dolch zwischen den Zähnen hervor, um mit mir reden zu können. »Ich habe eine Hypothese überprüft.«
    »Ob du diese Praxis niederbrennen kannst?«
    »Was für eine Praxis? Wo bist du denn überhaupt?«, fragt Oliver. »Und warum bin ich bis auf die Haut durchnässt?«
    »Das ist eine lange Geschichte …« Plötzlich erfasse ich, was er mir gerade gesagt hat. »Du … du willst sterben?«
    »Nein – ich will hier raus. Aber alles, was sich in dieser Geschichte verändert, wird am Ende wieder in den Urzustand versetzt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Tote stehen wieder auf. Kaputte Ställe sind wieder ganz. Was soll es mir bringen, mich aus diesem Buch herauszuschreiben, wenn ich früher oder später

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