Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
sowieso wieder darin lande?«
Ich erinnere mich an die Worte, die vor meinen Augen auf der Seite geflirrt und sich verwandelt haben. »Warte mal«, sage ich und blättere zu der Seite, auf der Pyro und Oliver kämpfen.
Der Text ist der gleiche wie immer.
Eilig schlage ich wieder Seite 43 auf, auf der Oliver und ich ungestört reden können. »Du hast recht«, sage ich zu ihm.
»Anscheinend. Ich bin nämlich nicht verbrannt.« Er schnuppert an seinen Ärmeln. »Riechen nicht mal nach Rauch. Delilah, es tut mir leid, ich stecke hier wohl fest und bin dazu verurteilt, für immer und ewig Teil dieser Geschichte zu bleiben. Nichts aus diesem Buch wird je in die Außenwelt gelangen.«
Ich denke daran, dass das Wasser die Barriere durchdrungen hat – aber in beiden Fällen war es Wasser aus meiner Welt, das seine erreicht hat, ein Einwegventil. Unsere beiden bisherigen Versuche, etwas aus dem Buch herauszubekommen, haben nicht funktioniert. Allerdings ist diesmal sehr wohl etwas zu mir herübergekommen.
»Oliver«, sage ich. »Du täuschst dich.«
Er hebt den Blick zu mir. »Inwiefern?«
»Als du in Pyros Flammen hineingerannt bist, hast du doch das Buch in der Hand gehabt, das du bei Rapscullio gefunden hast?«
»Ja.«
»Tja, das muss wohl der Unterschied sein. Als es Feuer fing«, sage ich, »begann das Buch, das ich lese, auch zu brennen. Und es war nicht nur so, dass überall Worte wie Inferno und Feuersbrunst gestanden hätten, sondern es waren richtige Flammen!«
Oliver reißt die Augen auf. »Du meinst …«
»Ja«, lache ich. »Du hast es geschafft!«
» Wer hat was geschafft?« Meine Mutter ist hereingekommen. Sie und Dr. Ducharme starren mich an, wie ich vor dem Aquarium stehe und mit einem aufgeschlagenen Buch spreche.
»Ich, äh, habe nur … eine Hypothese überprüft«, sage ich, Oliver zitierend. »In Biologie behandeln wir gerade die Frage, ob Meereslebewesen in der Lage sind, Worte zu erkennen.« Ich schlage das Buch zu, wickle es in meine Jacke und drücke es an meine Brust. Es hinterlässt vorn auf meiner Bluse einen feuchten Fleck.
Wenn der Psychiater mich bisher noch nicht für verrückt gehalten hat, dann hat die Tatsache, dass er mich dabei beobachtet hat, wie ich seinen Fischen etwas vorlese, mein Schicksal wohl besiegelt. Da ich weiß, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr rauskomme, sage ich mit einem breiten Lächeln zu Dr. Ducharme: »Also, bis nächste Woche um die gleiche Zeit?«
Seite 40
Irgendwie war Olivers ganzes bisheriges Leben eine Art Vorbereitung auf diesen einen Moment gewesen: Als er Auge in Auge mit der Bestie stand, die seinen Vater getötet hatte.
Die roten Schuppen des Drachen schimmerten in der gleißenden Sonne. Seine Augen waren so schwarz wie das Herz des Mannes, der ihn zum Leben erweckt hatte. Seine Klauenfüße suchten auf dem nackten Felsen am Kap der Gezeiten Halt. Oliver sah, wie Pyro seinen langen Hals nach hinten bog, tief Luft holte und eine Feuerwolke in den Himmel stieß.
Olivers Puls raste. Er stand so dicht vor dem Drachen, dass ihm der Geruch von verkohltem Fleisch und Asche in die Nase stieg. Derart hautnah und unmittelbar war er noch nie mit Gefahr konfrontiert gewesen, und er hatte es auch sein Leben lang tunlichst vermieden. Wie er es so oft in seiner Kindheit getan hatte, fragte er sich auch jetzt, wie seinem Vater in dieser Situation zumute gewesen sein mochte.
Hatte König Maurice unerschütterlich und furchtlos dem Untier getrotzt und sich mit gezücktem Schwert in den Tod gestürzt? Hatten seine letzten Gedanken seiner geliebten Frau gegolten? Dem Sohn, den er nie kennenlernen würde?
Ich komme hier nicht lebend raus , dachte Oliver.
Er griff nach dem Kompass um seinen Hals, den er von seiner Mutter bekommen hatte. Wenn es einen passenden Moment gab, um die Flucht zu ergreifen und nach Hause zu laufen, dann war er jetzt gekommen. Doch als sich seine Finger um die kleine Scheibe schlossen, malte er sich aus, wie sein Vater dasselbe getan hatte, als er eben jenem Drachen gegenüberstand. Oliver wollte seinem Vater Ehre machen. Er wollte ihm ein Sohn sein, der sich seinen Ängsten stellte, anstatt sich von ihnen überwältigen zu lassen.
Er schob den Kompass zurück unters Hemd.
Vielleicht wusste er das Schwert nicht so geschickt zu führen wie sein Vater und besaß auch nicht jene Kühnheit, wie sie in Heldenepen und Legenden besungen wird. Aber eine Schlacht ließ sich auch auf andere Weise gewinnen.
»Warte!«, schrie
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