Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
würden.
»Also«, beginnt der Psychiater, »nenn mir ganz spontan fünf Orte, an denen du jetzt lieber wärst als hier.«
Ich blicke zu ihm hoch. »In England zur Zeit der Pest, beim Zahnarzt zur Wurzelbehandlung, bei den Dreharbeiten zu den Teletubbies , in einem Dixieklo eingeschlossen und … beim Zulassungstest für eine Hochschule.«
Er legt die Finger aneinander und lässt meine Worte wirken. »Teletubbies?«, sagt er nach einem Weilchen und verzieht das Gesicht. »So schlimm?«
»So schlimm«, sage ich, aber mein Mund zuckt dabei.
Er hat ein nettes Lächeln und noch alle Haare, und er ist ungefähr so alt wie meine Mutter. »Deine Mutter meint, du bist nicht besonders davon angetan, dass du zu mir kommen sollst«, sagt Dr. Ducharme.
»Nehmen Sie das nicht persönlich. Mir fehlt eben nichts.«
»Das freut mich zu hören. Aber das ist auch nicht der Grund dafür, warum deine Mutter in Sorge ist.« Er beugt sich vor. »Sie ist beunruhigt, weil du dich offenbar in letzter Zeit isolierst. Du bist süchtig nach diesem Buch – vielleicht sogar davon besessen.«
Als ich nicht antworte, faltet er die Hände. »Als ich so alt war wie du, habe ich mir Fröhliche Weihnachten jedes Weihnachten mindestens zehn Mal angesehen. › Damit schießt man sich die Augen aus! ‹ , zitiert er.
Ich starre ihn verständnislos an.
»Du kennst den Film wahrscheinlich nicht«, erklärt der Arzt. »Ich will damit sagen, ich habe ihn mir wieder und wieder angesehen, weil das leichter war, als mir einzugestehen, dass Weihnachten für Kinder, deren Eltern geschieden sind, eine ziemlich traurige Angelegenheit ist. Manchmal verschleiern Dinge, die uns ein wichtiger Trost sind, nur das tieferliegende Problem.« Er blickt mir direkt in die Augen. »Vielleicht kannst du mir erklären, warum diese Geschichte dir so viel bedeutet?«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Wenn ich sage, dass Oliver mit mir spricht, stehe ich als Verrückte da.
»Ich lese es nicht, weil ich meinen Vater vermisse oder meine Mutter hasse oder aus sonst einem ach so bedeutsamen Grund, den Psychiater immer sofort vermuten. Es ist wirklich keine große Sache.«
»Deine Mutter ist offenbar der Meinung, es sei für dich sehr wohl eine große Sache«, erwidert Dr. Ducharme. »Ich kenne nicht viele Fünfzehnjährige, die sich die Zeit mit Märchenlesen vertreiben.«
»Es ist nicht bloß ein Märchen«, platze ich heraus.
»Wie meinst du das?«
»Es ist eine einzigartige Geschichte. Und es gibt nur dieses eine Exemplar auf der Welt.«
»Verstehe«, sagt der Psychiater. »Dich reizen seltene Bücher?«
»Nein«, gebe ich errötend zu. »Es ist die Hauptfigur. Ich kann mich gut mit ihm identifizieren.«
»Inwiefern?«
Ich denke einen Augenblick nach und betrachte die Fische, die in Dr. Ducharmes Aquarium ihre Kreise ziehen. »Er wünscht sich, sein Leben wäre anders.«
»Wünschst du dir auch, dein Leben wäre anders?«
»Nein«, sage ich frustriert. »Es geht nicht um mich. Es ist das, was er mir erzählt hat.« Augenblicklich überkommt mich Panik – ich habe gerade das ausgeplaudert, was ich keinesfalls hatte preisgeben wollen.
»Also … du hörst ihn reden?«
Der Psychiater hält mich für verrückt. Andererseits, warum wäre ich sonst überhaupt hier? »Ich höre keine Stimmen. Ich höre nur Oliver. Moment«, sage ich. »Ich zeige es Ihnen.«
Ich blättere das Buch durch, bis ich auf Seite 43 lande. Da hängt Oliver ganz starr an der Felswand, den Dolch zwischen die Zähne geklemmt. »Oliver«, fordere ich ihn auf. »Sag doch was.«
Nichts.
»Oliver!«, stöhne ich. »Ich weiß nicht, warum er jetzt nichts sagt.«
»Und was empfindest du dabei?«, fragt Dr. Ducharme.
Oliver weiß, dass ich da bin. Ich erkenne es an der Art, wie seine Augen zu mir wandern, wenn er glaubt, der Psychiater würde nicht hinsehen. Kapiert er denn nicht, dass ich ihn jetzt mehr denn je brauche? Dass gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist, um Faxen zu machen? Dass unsere ganze gemeinsame Zukunft vielleicht davon abhängt, dass er genau jetzt irgendeinen Laut von sich gibt? Ich beuge mich über das Buch und drücke die Nase auf die Seite. »Oliver«, stoße ich zwischen den Zähnen hervor. » Sprich !«
Keine Antwort.
Nun gut, wenn er Spielchen spielen will, meinetwegen.
»Na schön. Probieren wir es mit dieser Szene.« Ich blättere bis zur letzten Seite des Buches, auf der Oliver und Seraphima in einem inniglichen Kuss vereint sind.
Ich meine zu
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