Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
zu galoppiert.
Als er mich entdeckt, reißt er so heftig an den Zügeln, dass Socks sich aufbäumt und mit wirbelnden Hufen die Luft durchschneidet. Oliver sitzt ab und kommt eilig auf mich zu. Bevor ich mich entschuldigen kann, nimmt er mich in die Arme. »Es tut mir so leid«, sagt er. »Ich habe nicht daran gedacht, wie viel du dabei zu verlieren hattest. Nur daran, wie viel ich gewinnen würde.«
Ich erwidere seine Umarmung. »Ich weiß. Wir werden einen Weg finden, wie ich nach Hause komme. Und du kommst mit.«
Hinter mir höre ich ein Schniefen.
»Ach« – Socks schluckt – »ist das romantisch!«
Oliver räuspert sich. »Socks? Du kennst ja wohl den Heimweg?«
»Selbstverständlich«, antwortet er stolz.
»Gut. Warum trollst du dich dann nicht dorthin? Und zwar sofort.«
»Oh! Du meinst … Jawohl, in Ordnung, fünftes Rad am Wagen. Schon kapiert.« Mit einer verlegenen Verbeugung trottet er zurück über den Pfad, auf dem er gekommen ist. Oliver und ich lassen uns im Gras nieder.
»Ich glaube, ich verstehe erst jetzt, wie das ist, wenn man unbedingt woanders sein möchte«, gestehe ich.
»Ich hätte dich nicht einfach so für mich beanspruchen dürfen«, sagt Oliver. »Ich wünschte, es gäbe einen Weg, deine Mutter wissen zu lassen, dass es dir gut geht.«
Bei der Erwähnung meiner Mutter kippt meine Stimmung für einen Moment.
Oliver streicht mir sanft über die Wange. »Kann ich irgendetwas tun, um dich glücklich zu machen?«
»Du kannst mich festhalten«, sage ich, und sofort zieht er mich wieder an sich. Ich spüre die Wärme seiner Haut und wie sein Herz gegen meines schlägt. Ich spüre seine Finger auf meinem Rücken. Er ist genauso real wie ich. »Oliver«, wiederhole ich langsam, als mir das Wunder dieses Augenblicks so richtig bewusst wird. »Du kannst mich festhalten .«
»Das ist noch nicht alles«, entgegnet er. Er nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände und drückt ganz sanft und zärtlich seine Lippen auf meine.
Es ist vollkommen anders als bei Leonard Uberhardt, von dem ich meinen ersten Kuss bekommen habe, oder vielmehr, der mein halbes Gesicht verschluckt hat. Es ist süß und weich. Es ist, als würde Oliver mir eine ganze Geschichte ohne Worte erzählen, als ließe sich das, was er fühlt, nicht in Worte fassen, sondern nur körperlich vermitteln.
Als wir uns voneinander lösen, atme ich schwer und kann meine Augen nicht von ihm abwenden.
»Du hast keine Vorstellung, wie lange ich schon auf diesen Moment warte«, sagt Oliver.
Ich schlinge meine Arme um seinen Hals. »Dann machen wir es doch gleich noch mal«, locke ich ihn.
Er fasst mich an den Handgelenken und schiebt mich weg. »Du müsstest eigentlich besser als jeder andere wissen, dass wir Wichtigeres zu tun haben.«
Er hat natürlich recht. Ich möchte nach Hause. Trotzdem bin ich ein klein wenig enttäuscht.
Erst jetzt scheint Oliver mein Kleid zu bemerken. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Die Meerjungfrauen«, erkläre ich.
»Es überrascht mich, dass sie nicht versucht haben, dich von mir abzubringen«, sagt er. »Von Männern halten sie für gewöhnlich nicht viel.«
»Also, wie lautet dein Plan? Wie kommen wir zurück nach Hause?«
»Tja«, meint Oliver und errötet. »Ich bin noch dabei, mir das zu überlegen.«
»Aber du weißt doch immer , was zu tun ist. Einerlei, mit welcher Situation du konfrontiert wirst oder in welchen Schlamassel du gerätst, du findest einen Ausweg.«
»Nur weil ich so geschrieben wurde«, räumt Oliver ein. »Wenn ich wirklich so schlau wäre, wäre ich schon längst nicht mehr in diesem Buch.«
»Aber im Buch bist du immer …«
»Im Buch verliebe ich mich auch jedes Mal in Seraphima«, unterbricht mich Oliver. »Und glaub mir, das ist nur Theater.«
Plötzlich fröstle ich. Die Ungeheuerlichkeit meiner Situation wird mir bewusst. Ich stecke in einem Märchenbuch fest, das womöglich nie mehr aufgeschlagen wird. Nachdem ich die Geschichte so oft gelesen habe, kann ich nicht mehr zwischen dem erfundenen und dem echten Oliver unterscheiden. Ich weiß nicht mehr, was real ist.
Dass ich es laut gesagt habe, merke ich erst, als Oliver meine Hand nimmt. » Wir sind real«, sagt er. » Das hier ist real.«
Inzwischen ist die Sonne gesunken und hat den Himmel in ein leuchtendes Orange getaucht. »Wir machen uns jetzt besser auf den Weg nach Hause«, sagt Oliver, und ich setze mich ein wenig aufrechter. »Und mit zu Hause«, erklärt er und verzieht das Gesicht,
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