Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
gerettet.
Bevor er auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, wie er – ein Junge, der nicht einmal ein Schwert bei sich trug und der seiner Mutter versprochen hatte, nicht zu kämpfen – einen Schurken besiegen sollte, der mindestens fünfzehn Zentimeter größer und zwanzig Kilo schwerer war als er selbst, erschien Seraphima oben auf dem Turm.
Sie trug ein Kleid von fast blendendem Weiß, ihr besticktes Mieder war mit Edelsteinen besetzt und aus den langen, spitz zulaufenden Ärmeln lugten nur die Fingerspitzen hervor. Im Haar trug sie einen hauchzarten Hochzeitsschleier.
Über Rapscullios Schulter hinweg entdeckte sie Oliver sofort.
Olivers Blick glitt über ihre silbrig glänzenden Haare, ihre veilchenblauen Augen, ihr herzförmiges Gesicht. Und ganz unversehens ging in ihm eine kleine, fast unmerkliche Veränderung vor. Auf einmal erfüllte ihn eine selige Wonne, sein Atem war im Einklang mit ihrem Atem und das Blut rauschte ihm in den Ohren.
Deshalb gab es Musik, erkannte er jetzt. Weil es Gefühle gab, die sich nicht mit Worten ausdrücken ließen. Seraphimas Lippen öffneten sich leicht. »Endlich«, hauchte sie, als hätte sie schon gewusst, dass er kommen würde.
Doch das eine Wort genügte, um Rapscullio herumfahren zu lassen. Sein Umhang wallte auf wie eine Rauchwolke. »So, so«, sagte er, jedes Wort ein Peitschenschlag. »Sieh mal einer an, wer da die Feier stört.«
O liver
Am nächsten Morgen lasse ich im Turm von Timble für mich und Delilah ein Frühstückspicknick vorbereiten. Wir sollten uns stärken, bevor wir uns zu Orvilles Hütte aufmachen.
Außerdem will ich irgendwie noch ein paar Minuten mit ihr allein haben, anstatt mit anzusehen, wie Königin Maureen sie über den Banketttisch hinweg ausquetscht.
Ich hatte geglaubt, mir alles, was es über Delilah zu wissen gibt, eingeprägt zu haben – von den Sommersprossen über ihre Lieblingsbluse bis hin zu der Tatsache, dass sie ihrem Goldfisch immer eine Extraportion Futter gibt –, aber inzwischen weiß ich, dass ich noch viel lernen muss. Zum Beispiel, dass ihre Haut zart ist wie eine Feder und dass ihre Haare nach Apfel riechen. Ihre Hand passt in meine wie das fehlende Teil bei einem Puzzlespiel.
Delilah erklimmt vor mir die Stufen des Turms, wobei sie ihre Röcke ärgerlich beiseitetritt. »Blödes Kleid«, murmelt sie.
»Mag sein, dass es blöd ist«, erwidere ich, »aber es steht dir ziemlich gut.«
Sie blickt mich über die Schulter an. »Ich wette, du würdest anders empfinden, wenn du es tragen müsstest. Bist du je mit Absätzen über eine Wiese getrippelt? Bestimmt nicht …«
»Ich tripple nicht. Männer trippeln nicht. Wir … schreiten.«
Delilah bekommt einen Lachanfall. »Schreiten? Du?«
Beleidigt bleibe ich stehen. »Wie bitte? Was stimmt denn nicht mit meiner Art zu gehen?«
Noch bevor Delilah antworten kann, ist sie schon oben angekommen, und es verschlägt ihr den Atem. »Oliver«, sagt sie. »Wann hast du das alles hier raufgeschleppt?«
»Hin und wieder ist es wirklich von Vorteil, über ein Schloss voller Bediensteter zu verfügen«, sage ich. Als ich an ihr vorbeispähe, stelle ich fest, dass meine Erwartungen noch übertroffen wurden. Ein Schaffellteppich wurde auf den Boden gebreitet, und darauf erwartet uns ein Festmahl – ein gebratener Truthahn, Aprikosenchutney, gefüllte Feigen. Oliven, Trauben und Pflaumen türmen sich in den besten Porzellanschüsseln der Königin. Neben zwei goldenen Kelchen steht eine Karaffe mit Blaubeerwein.
»Ich werde hier fünf Kilo zunehmen«, murmelt Delilah. »Eine Scheibe Toast hätte es auch getan.«
Tauben sitzen gurrend auf den Turmzinnen über uns, während sie sich in ihrem verhassten Kleid mit raschelnden Röcken auf dem Teppich niederlässt. Sie schiebt sich eine Traube in den Mund und seufzt. »Das ist alles so unwirklich. Ich komme mir vor wie eine Prinzessin.«
Ein besseres Stichwort hätte sie mir für das Gespräch, das ich zu führen hoffe, kaum liefern können.
»Seltsam«, sage ich. »Ich habe gerade das Gleiche gedacht.«
Delilah runzelt die Stirn. »Du fühlst dich auch wie eine Prinzessin?«
»Nein!«, wehre ich ab. »Es ist nur so, dass ich … na ja, ich finde, du würdest eine großartige Prinzessin abgeben.« Ich zwinge mich, ihr in die Augen zu blicken. »Ich habe so was noch nie gemacht. Jedenfalls nicht ernsthaft, meine ich damit.« Ich schlucke schwer, dann falle ich vor ihr auf die Knie und nehme ihre Hand in
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