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Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)

Titel: Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult , Samantha van Leer
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und es thront ein reich geschnitztes Himmelbett mit Gazevorhängen darin. Im Kamin brennt ein Feuer. Davor stehen zwei mit rotem Samt bezogene Stühle, und auf einem niedrigen Holztisch dazwischen ist ein Festmahl angerichtet: ein Brathühnchen, eine Schale mit frischem Obst, ein mehrstöckiger Kuchen, zwei Laibe Brot und Schüsseln, in denen sich Gemüse türmt. »Oliver«, sage ich«, »was glaubt sie, wie viel ich esse?«
    Er lächelt. »Cook übertreibt es manchmal ein bisschen.«
    »Also, ich will nichts verderben lassen. Komm rein und schnapp dir eine Gabel.«
    »Ich kann nicht mit in dein Gemach kommen«, entgegnet er entgeistert.
    »Warum nicht? Du warst schon Dutzende Male in meinem Zimmer.«
    Er wird rot. »Hier ist es irgendwie etwas anderes.«
    »Nein, ist es nicht. Außerdem sind wir sieben Stockwerke hoch in einem Turm. Wer soll es schon mitbekommen?«
    Die nächsten Stunden sitzen Oliver und ich vor dem Kamin und vertilgen einen kleinen Teil des üppigen Mahls. Er erfreut mich mit Geschichten über die Streiche, die er Frump gespielt hat, und schildert mir kurz jede der Personen, denen ich vermutlich begegnen werde. Ich erzähle ihm von meinem Streit mit Jules und wie meine Mutter mich aufheitern wollte. Schließlich sammeln wir Ideen, wie wir es bewerkstelligen könnten, das Märchen zu verlassen.
    »Sobald das Buch aufgeschlagen wird«, sagt Oliver, »wirst du verschwinden, denn du bist nicht Teil dieser Geschichte.«
    »Selbst wenn es so kommt – was keineswegs sicher ist –, wärst du nicht mit dabei. Wir stünden wieder am Anfang.«
    »Aber ist es nicht besser, wenn wenigstens einer von uns draußen ist anstatt keiner?«
    Darauf kann ich keine Antwort geben, zumindest keine ehrliche. Früher wollte ich, dass Oliver bei mir ist, wusste aber noch nicht, was ich verpasste. Jetzt weiß ich, wie es ist, in seiner Nähe zu sein, und darauf zu verzichten ist sehr viel schwerer geworden.
    »Das Buch steht in einem Regal in meinem Zimmer. Niemand wird je Notiz davon nehmen, geschweige denn, es aufschlagen.«
    »Dann müssen wir das irgendwie herbeiführen«, sagt Oliver. »Es muss einen Weg geben, ein Buch dazu zu bringen, sich von selbst zu öffnen.«

    »Zauberei«, scherze ich.
    Oliver sieht mich an. »Natürlich«, sagt er und zieht die Augenbrauen nach oben. »Wir brauchen zuallererst Orville.«
    Ich gähne hinter vorgehaltener Hand, aber Oliver sieht es. »Du hast einen ziemlich langen Tag hinter dir«, sagt er und steht auf. »Du musst jetzt wirklich ins Bett.«
    Er nimmt den Kerzenhalter, mit dem er uns heraufgeleuchtet hat, und geht zur Tür. »Du kannst mich doch hier nicht allein lassen«, sage ich panisch. Und wenn ich mich nun schlafen lege und beim Aufwachen feststelle, dass alles weg ist? Ich kenne die Spielregeln dieser Welt nicht. Ich weiß nicht, was passieren könnte.
    »Ich bin direkt unter dir«, sagt Oliver. »Ein Stockwerk tiefer. Klopf einfach auf den Boden, dann komme ich sofort hoch.«
    Wir stehen auf der Schwelle zu meinem Gemach. »Hast du nicht etwas vergessen?«, sage ich, Seraphima zitierend.
    Er grinst, dann beugt er sich vor und gibt mir einen Gutenachtkuss. Als wir uns voneinander lösen, lächeln wir immer noch. Oliver steigt die Steinstufen hinunter. »Träum von mir, Cousin!«, rufe ich ihm hinterher.
    Ich höre ihn den ganzen Weg nach unten lachen.



Seite 44
    Oliver spürte den Mörtel des steinernen Turms unter den Fingernägeln. Wie lange würde er sich wohl noch halten können? Unter ihm gab es nur tosende Brandung und scharfkantige Felsen. Eine falsche Bewegung, und er würde in den sicheren Tod stürzen.
    Mit all seiner Kraft zog er sich hinauf auf den breiten Sims.
    Doch anstelle einer schönen Prinzessin, des Mädchens seiner Träume, dessentwegen er den langen, gefährlichen Weg auf sich genommen hatte, sah er einen hochgewachsenen Mann in einem Umhang auf und ab laufen. »Nun?«, drängte der Mann.
    Seine Stimme glich Nebel, der am Horizont heraufzieht. Das Haar fiel ihm wie eine Rabenschwinge über ein Auge, und eine Narbe, die quer über das Gesicht verlief, zog seine Mundwinkel nach unten. Mit langen, knochigen Fingern trommelte er auf seine Arme.
    »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, verkündete er.
    Niemand hatte Oliver vorgewarnt, dass seine Herzallerliebste vielleicht nicht allein im Turm sein könnte, doch rückblickend wurde ihm klar, dass er es hätte ahnen müssen. Wenn es so leicht gewesen wäre, hätte längst ein anderer Seraphima

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