Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
»ist der Palast gemeint.«
Er zieht mich auf die Füße und führt mich auf einen Pfad durch die Wiese. Ich spüre die Wärme seiner Schulter an meiner und rieche den Kiefernduft, der von seinem Wams aufsteigt. Vor uns tanzen Feen wie Glühwürmchen und schreiben unsere Initialen in den violetten Dämmerhimmel. Ich muss lächeln über ihre akrobatischen Verrenkungen und staune darüber, dass ich diese winzigen Geschöpfe direkt vor meinen Augen sehen kann. So sehr ich mir auch wünsche, diese Welt zu verlassen, sie ist atemberaubend.
Ganz in den Genuss des Augenblicks vertieft, bemerke ich Seraphima erst, als sie mit großen Augen einen Meter vor uns steht. Das hellblonde Haar fällt ihr wallend über den Rücken, und in ihrem ebenmäßigen Gesicht spiegelt sich Verwirrung. »Oliver?«, fragt sie.
»Oh, ähm, hallo Seraphima«, begrüßt er sie. »Kennst du … meine Cousine Delilah?« Oliver raunt mir zu: »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie so beschränkt ist. Ich möchte sie nicht verletzen. Spiel einfach mit.«
Seraphima schenkt mir ihr süßestes Lächeln. »Delilah!«, sagt sie und nimmt meine Hände. »Wir werden uns bestimmt wunderbar verstehen!«
Ich bringe ein Lächeln zustande. »Da wette ich drauf.«
»Es ist schon spät, meine Mutter erwartet uns«, sagt Oliver.
»Natürlich!«, entgegnet Seraphima. Sie umarmt mich spontan. »Sollen wir uns morgen am Marktplatz zum Einkaufen treffen?«
»Ähm …«
»Delilah hat morgen einen vollen Terminplan«, wirft Oliver ein. »Aber vielleicht übermorgen.« Er zieht mich weiter und wir setzen unseren Weg fort.
»Oliver!«, ruft sie uns hinterher. »Hast du nicht etwas vergessen?«
Er hält an und dreht sich um. »Ich wüsste nicht, was …«, sagt er und lächelt gezwungen.
Seraphima läuft auf ihn zu, schlingt ihm die Arme um den Hals und küsst ihn auf den Mund. Dann löst sie sich von ihm und klimpert mit den Augenlidern. »Träum von mir«, sagt sie verschämt.
Sobald wir eine Kehre erreicht haben, knuffe ich Oliver in die Seite. »Deine Cousine ?«
»Das war das Erstbeste, was mir eingefallen ist«, verteidigt er sich. »Sie tut mir leid, okay?«
»Trotzdem hättest du sie nicht küssen müssen!«
»Sie hat doch mich geküsst!«, wendet Oliver ein.
»Du hast dich ja nicht gerade gewehrt.«
Oliver strahlt. »Da ist wohl jemand ein bisschen eifersüchtig.«
Ich werfe mein Haar zurück. »Das hättest du wohl gerne!«
Er schlingt seine Finger in meine. »Hätte?«, fragt er. »Mein Wunsch hat sich schon erfüllt.«
Als wir das Schloss erreichen, ist es Nacht geworden. Fackeln säumen die Zugbrücke, die zum Portal führt, und die Männer, die links und rechts Wache stehen, verbeugen sich, als Oliver vorbeischreitet. »Jetzt verstehe ich, warum du so ein riesengroßes Ego hast«, murmle ich.
»Ich nenne es lieber Selbstvertrauen«, sagt Oliver.
Durch das Schlosstor gelangen wir zunächst in eine riesige steinerne Halle. Auf den Wandteppichen sind Prinzen und Prinzessinnen aus vergangenen Zeiten dargestellt. Die brennenden Kerzen in dem Kristallleuchter an der Decke werfen lange Schatten auf den Boden. Ein Lakai in dunkelblauer Samtlivree mit eingesticktem Königswappen auf der Brust kommt auf uns zu. »Euer Hoheit«, sagt er. »Königin Maureen hat sich mit Kopfschmerzen zurückgezogen, aber sie lässt Euch ausrichten, Euer Gast möge im Nordturm logieren. Das Gemach ist bereits hergerichtet.«
»Danke«, sagt Oliver. »Ich werde Lady Delilah persönlich dorthin begleiten.«
»Wie Ihr wünscht«, sagt der Lakai und reicht Oliver seinen Kerzenhalter.
Mir knurrt der Magen. »Kann ich mir vielleicht rasch ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade machen, bevor wir nach oben gehen?«, flüstere ich.
»Was ist ein Sandwich?«, fragt Oliver.
»Ein kleiner Imbiss«, korrigiere ich mich. »Ich bin irgendwie hungrig.«
Er grinst. »Wie ich Königin Maureen kenne, musst du dir deswegen keine Sorgen machen.« Der Lakai ist verschwunden und hat uns in der Großen Halle allein gelassen. Ich folge Oliver und halte dabei seine Hand, damit er mich in der Dunkelheit führen kann. Als wir die steinerne Wendeltreppe hinaufgehen, wirft die unruhige Flamme tanzende Schatten von uns an die Wand.
Wir erklimmen sieben Stockwerke. Am obersten Treppenabsatz bleibt Oliver vor einer schweren Holztür stehen. »Ich weiß, es ist nicht wie zu Hause, aber ich hoffe, es gefällt dir«, sagt er und drückt sie auf.
Das Schlafgemach hat eine hohe Gewölbedecke
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