Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Dunkeln Ratten über die Stiefel liefen und Fledermäuse am Gesicht vorbeischwirrten, dachte Oliver, das sei eine ziemlich schmachvolle Art, aus dem Leben zu scheiden.
Das heißt, nach dem gescheiterten Versuch, eine Prinzessin zu retten, die möglicherweise seine Braut geworden wäre. Seraphima tat ihm leid, aber er selbst tat sich noch mehr leid.
Nie wieder würde er auf Socks in halsbrecherischer Geschwindigkeit über eine Wiese jagen.
Nie wieder würde er für Frump einen Stock werfen.
Nie würde er über ein Königreich herrschen.
Nie wieder würde er den Regen auf seinem Gesicht spüren.
Nie würde er seine große Liebe küssen.
Denk positiv, Oliver , ermahnte er sich. Er würde auch nie befürchten müssen, eine Glatze zu bekommen. Und nie wieder gebackene Leber mit Zwiebeln essen müssen, wovor es ihm ekelte. Er würde nie Windpocken bekommen.
Es würde ihn unten im Kreuz, wo er mit den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen nicht hinkam, nie wieder so schrecklich jucken.
Frustriert versuchte er, seine gefesselten Hände Stückchen für Stückchen zu der juckenden Stelle zu bewegen, schob damit jedoch nur sein Wams hoch.
Und dabei fiel etwas klappernd auf den Steinboden.
Oliver kniff im trüben Licht die Augen zusammen. Es war der Haifischzahn, den die Meerjungfrauen ihm geschenkt hatten. Er hatte ihn als Talisman in der Tasche bei sich getragen. Schließlich war er ja zu nichts nütze, außer man war ein Hai, der Zahnersatz brauchte.
Oder man saß gefesselt im Kerker eines Turms.
Oliver ließ sich auf die Knie fallen, tastete nach dem Zahn und bekam ihn zu fassen. Mit vorsichtigen kleinen Bewegungen begann er, seine Fesseln damit durchzusägen. Es kam ihm vor, als würde es ewig dauern, und ihm lief die Zeit davon – jeden Moment konnte Rapscullio Seraphima zur Frau nehmen.
Oliver spürte, wie etwas seinen Stiefel und dann sein Bein hinaufkroch. Eine Ratte. Sein Gezappel hatte den Nager auf den Plan gerufen. Verwundert hielt Oliver still, während die Ratte das Seil so weit durchnagte, bis er es aus eigener Kraft zerreißen konnte.
In dem uralten Turm gab es keine richtigen Zellen. Oliver musste sich nur aus der feuchten, übelriechenden Grube hochhieven, in die man ihn geworfen hatte. Lautlos stieg er die Wendeltreppe hoch und lauschte auf Rapscullios Stimme. Als er jedoch das Turmzimmer erreichte und den Kopf durch die Tür steckte, war es leer. Das dachte er jedenfalls, bis ihn jemand von hinten ansprang und auf seinen Kopf eindrosch.
Eingehüllt in eine Wolke aus Tüll und Taft rang er Seraphima nieder und drückte ihre Handgelenke auf den Boden. »Du bist ja gar nicht Rapscullio«, keuchte sie.
Er grinste. »Enttäuscht?«
Seraphima schüttelte den Kopf und lächelte. Sie war bezaubernd, wenn sie lächelte. Aber sie war auch bezaubernd, wenn sie nicht lächelte. »Ich wusste, dass du kommen und mich retten würdest«, sagte sie.
Als Oliver zu ihr hinuntersah, war er plötzlich überzeugt, dass er, falls nötig, auch hundert Männer niedermetzeln konnte. War das alles, was man brauchte, um mutig zu sein? Das Wissen, dass jemand an einen glaubte?
»Ich habe einen Plan«, flüsterte Oliver und zog sie auf die Füße. »Aber dafür brauche ich dein Kleid.«
O liver
Ich weiß nicht recht, ob ich mit Delilah einer Meinung bin.
Zunächst einmal ist es, selbst wenn es ihr gelingt, die Geschichte umzuschreiben, keineswegs sicher, dass das Märchen nicht versuchen wird, sich zu korrigieren wie schon hunderte Male zuvor.
Zweitens ist mir nicht ganz wohl dabei, wenn ich sehe, wie Delilah vor dieser Computer-Kiste sitzt und in deren Speicher nach der Geschichte sucht. Es ist, als würde man das Hirn einer anderen Person durchstöbern. Es ist wie Stehlen.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sage ich laut.
Delilah seufzt. »Dann sag mir, was wir tun sollen, Oliver. Alles andere haben wir schon ausprobiert.«
»Ich dachte, die Autorin selbst hätte gesagt, man kann eine Geschichte nicht ändern, die einmal erzählt worden ist. Das hast du wenigstens behauptet.«
»Und genau deshalb könnte das hier funktionieren«, sagt Delilah. »Diese bearbeitete Märchenfassung wird uns allein gehören.«
Ich spüre, wie dieser Edgar mich anstarrt. Hin und wieder pikst er mir mit dem Finger ins Gesicht und verbiegt meine Welt, weil er seinen Augen immer noch nicht traut. »Hast du das gesehen?« , sagt er. »Er hat sich bewegt, stimmt’s? «
Delilah dreht sich mit dem Sessel weg und befindet
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