Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Vorbild für ihn schaffen – jemanden, der vielleicht auch nicht der tapferste oder stärkste Junge im Königreich ist, der es aber schafft, stets siegreich zu bleiben, indem er seinen Kopf benutzt. Edgar war damals noch jünger – ich musste mir vorstellen, wie er als größerer Junge einmal aussehen würde – und so habe ich Oliver gezeichnet.«
»Also, sie gleichen sich vollkommen.«
»Nicht ganz«, sagt Jessamyn. »Edgar wird nie der Oliver werden, den ich mir gewünscht hatte.« Sie lächelt etwas traurig. »Ich war nicht sehr gut darin, Edgar in seiner Trauer beizustehen. Ich wusste nicht, wie man das macht, aber ich wusste, wie man Bücher schreibt. Also versuchte ich, ihm mit dem zu helfen, was ich am besten kann. Aber das hat nicht gereicht, deshalb habe ich aufgehört zu schreiben. Und mich stattdessen darauf konzentriert zu lernen, eine bessere Mutter zu sein.« Sie schüttelt den Kopf, wie um sich von etwas zu befreien, und tätschelt dann meine Schulter. »So, nun wollen wir es dir mal oben gemütlich machen.«
Das Gästezimmer ist in den Farben des Sonnenuntergangs gestrichen. Es gibt einen kleinen Holzschreibtisch und ein Doppelbett. Jessamyn versorgt mich mit einem Stapel frischer Handtücher und verspricht, nach mir zu sehen, wenn ich mich ein bisschen ausgeruht habe.
Es ist seltsam, nichts auspacken zu müssen. Ich setze mich auf die Bettkante und blicke mich im Raum um. An den Wänden hängen gerahmte Fotos von einem Kind in verschiedenen Altersstufen, angefangen beim Baby. Es ist Edgar, erkenne ich – und doch ziehen mich die Bilder magisch an. Ich berühre das Glas über den Fotografien und denke, dass Oliver so ausgesehen hätte, als er zwei war, als er vier war, als er zum ersten Mal auf einem Pferd saß, als er schwimmen lernte.
Plötzlich vermisse ich Oliver schrecklich. Ich öffne meinen Rucksack und ziehe das Buch heraus. Es klappt auf Seite 43 auf.
»Sie ist es, sie ist es wirklich! Delilah, du wunderbares Mädchen, du hast es geschafft!« Er ist so glücklich, dass es mir wehtut, ihn anzusehen.
»Oliver«, flüstere ich. »Sie wird das Ende nicht umschreiben.«
Sein Gesicht verdüstert sich. »Vielleicht kann ich ja selbst mit ihr sprechen.«
»Selbst wenn sie dich hören könnte, würde sie es nicht tun. Sie hat dieses Buch für ihren Sohn geschrieben. Sie wird nichts daran ändern. Es bedeutet ihr persönlich viel zu viel.«
»Sie hat einen Sohn?«, fragt Oliver. »Hast du ihn kennengelernt? Vielleicht kann er sie umstimmen.«
»Ja, ich habe ihn kennengelernt.«
»Und, wie ist er so?«
»Er könnte dein Zwilling sein«, sage ich.
Einen Moment lang wird Oliver ganz still. »Du bist also in einem Haus«, fasst er zusammen, »wo es einen Kerl gibt, der genauso aussieht wie ich, aber der real ist?«
Ich denke an das, was Jessamyn über Edgar gesagt hat. »Er ist nicht du«, erkläre ich einfach.
Olivers Antwort wird übertönt durch äußerst seltsame Geräusche aus dem Nebenzimmer. Schrille Schreie und Pfiffe vermischt mit unheimlichen Sirenen.
»Und?«, sagt Oliver. »Was meinst du dazu?«
»Ich konnte dich nicht verstehen …« Jetzt höre ich zusätzlich zu all den verrückten Geräuschen noch eine Stimme: Ich kriege dich, du blutsaugendes, bescheuertes Ungeheuer!
»Was zum …?« Ich blicke auf das Buch hinunter und achte diesmal darauf, es nicht zuzuschlagen. »Warte hier«, sage ich zu Oliver. Dann gehe ich hinaus in den Flur und klopfe an der Tür zum Nebenzimmer.
Es kommt keine Antwort. Das überrascht mich nicht, denn wie sollte man mich hören bei diesem Lärm? Also drücke ich die Klinke herunter und spähe hinein.
Edgar sitzt in einem seltsamen, ganz niedrigen Lehnsessel, ein Gamepad in der Hand. Auf einem Computerbildschirm vor ihm explodiert ein Asteroid in einer Galaxie. »Nimm das, Zorg!«, brüllt Edgar und stößt die Faust in die Luft. Buchstaben laufen über den Bildschirm:
High Scores
EDGAR 34 9 880
EDGAR 31 0 900
EDGAR 29 8 700
EDGAR 23 3 100
Ich frage mich, ob Edgar sein Computerspiel überhaupt schon mal gegen eine andere Person gespielt hat.
Und ich erinnere mich daran, was Jessamyn gesagt hat: dass er ein Einzelgänger ist. »He«, sage ich. »Lust auf Gesellschaft?«
Er fährt in seinem Sessel herum. »Wer hat dir gesagt, dass ich hier bin?«
»Na, ich höre doch so gut wie alles durch die Wand …«
Edgar verengt die Augen zu Schlitzen. »Hast du schon mal Battle Zorg 2000 gespielt?«
»Kann ich nicht behaupten,
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