Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
Ursachen und den Sinn seiner Erkrankung zu erforschen und diese ihm bewusst zu machen. Eine Erkrankung ist ja ein Zeichen dafür, dass im Leben etwas fehlt, dass etwas nicht stimmt, dass etwas aus der Balance geraten ist. Dazu gehört auch, dass man ein Bewusstsein entwickelt, welche seelischen Funktionen angelegt sind und ob sie ausreichend entwickelt sind. Wie wir Mängel – wir nennen das strukturelle Mängel – versucht haben zu bewältigen, welche Konflikte sich daraus ergeben.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel wurde die Frage gestellt, was für Sven das Skispringen und der Erfolg, sein ganzes Leben als Sportler im positiven Sinne bedeutet hat und welche »Leerstellen« dieses Leben und der Erfolg ausfüllen sollten. Dazu gehört auch die Frage, welche Bedürfnisse wie befriedigt werden: zum Beispiel das Bedürfnis nach Nähe, nach Selbstwert, nach Liebe und Sicherheit und so weiter. Sven drückte immer wieder aus, dass er »frei« sein wollte und im »Einklang« mit sich. Damit meinte er, wie er den vermeintlich äußeren und inneren Zwängen entfliehen kann und seinem Wesen gemäß leben kann.
Unser Wesen ist wie ein GPS: Wenn wir krank sind, meldet das GPS, dass wir unseren Weg verloren haben. So geht es vor allem darum, das innere Organ zu schulen, das dieses GPS lesen kann. Das ist unsere bewusste Wahrnehmung, auch Introspektionsfähigkeit genannt. Und erst dann Korrekturen unseres Weges eher geschehen zu lassen, als sich zu manipulieren.
Können Sie da noch ein Beispiel geben?
Sven hatte gelernt, sich selbst zu beobachten, und angstmotiviert teils vorschnell Schlüsse gezogen. Angst allein ist kein guter Ratgeber, weil sie aus unbewussten, früheren Quellen gespeist wird, die wenig mit der jetzigen, größeren Wirklichkeit zu tun haben. So kann uns unsere Sehnsucht nach Wohlbefinden oder Glück auf einen Zickzackkurs bringen. Das ist ähnlich wie beim Rudern in unruhigen Gewässern, wo der Anfänger versucht, zu schnell und zu heftig die Richtung zu beeinflussen. Die Selbstbeobachtung muss – wie in der Achtsamkeitsmeditation – eine gewisse freundliche, nichtwertende, geduldige Qualität haben. Wir nehmen die Angst zur Kenntnis, schauen, wie sie sich im Körper abbildet. Was sonst noch wahrzunehmen ist, woran sie uns erinnert. Vielleicht fühlt sich das an, als ob man durch eine Stromschnelle fährt, durch einen Engpass muss. Dadurch schaffen wir aber Raum, sodass sich unser Selbst wie ein natürlicher Fluss bewegen und ausdehnen kann. Und dann kann sich aus einem Angstgefühl Lebendigkeit oder gerichtete Kraft entfalten. Dann sind wir wirklich im Einklang mit unserem Körper, der Seele, mit unseren Gefühlen und mit unserer Umgebung. Das wird heutzutage gerne mit dem Begriff »Flow« ausgedrückt. Sobald wir werten, uns innere oder äußere Normen und Ideale zum Gesetz machen – zum Beispiel: das macht mich zu dick, da bin ich nichts wert –, wird das Gefühl unfrei zu sein, immer stärker. Die Anstrengung wird auch zunehmen, weil wir uns gegen den inneren Fluss mit unseren Vorstellungen stemmen.
Burn-out: Zeichnungen von Nora Maasberg
Können Sie sagen, was Sven in das Burn-out geführt hat?
Ein wesentlicher Faktor dürfte die jahrelange, fast ausschließliche Fokussierung auf sportliche Höchstleistungen sein.
Warum ist das so?
Die Phasen der Erholung und des Ausgleichs waren wohl zu kurz gekommen. Außerdem fordern öffentlicher Erfolg und der Druck der Medien ein hohes Maß an Abgrenzungsfähigkeit und innerer Stabilität, diesem äußeren Erwartungsdruck entgegenzutreten – das hat an ihm gezehrt. Dazu kommt, dass das Leben im Team, die gemeinschaftlichen Kontakte zwar freundschaftlich und verbindend sind, also seelische Nahrung sind. Dennoch ist die Konkurrenzsituation im Skisprung eine Realität, die auch gegenseitiges Misstrauen und eine gewisse Vereinzelung fördert. Das wiederum kann schwächen. Das Leben der so früh für Sport und Karriere vorgesehenen Kandidaten bedingt häufige Wechsel in den sozialen Bezügen, dies kostet umso mehr Kraft, je früher Umzüge und Reisen notwendig sind. Sven musste ja schon mit zwölf von zu Hause aufs Sportinternat. Für diese krisenhafte depressive Entwicklung mag es noch Ursachen in frühester Kindheit geben. Zur normalen Sozialisation in der DDR gehörte es, dass er bereits mit einem halben Jahr in eine Kinderkrippe kam und letztlich recht früh einem Anpassungsdruck ausgesetzt war.
Was kann denn durch so eine frühe Trennung verloren
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