Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
dass er so berühmt und eine öffentliche Person war. Das war für mich und mein Team eine ungewöhnliche Herausforderung. Sven fühlte sich von vielen Augen »verfolgt«, und auch auf uns als Behandler, also die Klinik, waren sie gerichtet. Wir hatten also eine große Verantwortung übernommen, durch die öffentliche Aufmerksamkeit, seine Vorbildfunktion und Bedeutsamkeit für den Sport, gleichzeitig aufgrund seines sehr schlechten körperlichen und psychischen Zustands. Außerdem hatte Sven über die Jahre versucht, das Ursachengefüge seiner Leistungseinbußen zu finden und zu korrigieren. Es war nicht leicht für ihn, diese Konzepte loszulassen.
Refugium für Körper und Seele: Sven Hannawald vor der Klinik Bad Grönenbach im Allgäu
Ist das nicht normal?
Ja, dies ist meist so, dass der Patient eigene Überzeugungen zur Disposition stellen muss. Dazu ist eben professionelle Hilfe nötig. Erst so können neue Möglichkeiten aufgezeigt und ausprobiert werden. Es ist ja schon schwer, ein Gericht, dass ich immer nach demselben Rezept koche, mal ein bisschen zu variieren. Erst recht ist die Veränderung intimer Gewohnheiten schwierig. Die Kontrolle über alte Muster abzugeben ängstigt sehr. Das ist bei uns allen so. Außergewöhnlich in der Arbeit mit Sven war außerdem, dass Sven jenseits seiner Berühmtheit wirklich ein besonderer Mensch ist.
Sinnspruch in der Praxis von Nora Maasberg
Inwiefern?
Ich habe wahrgenommen, dass Sven keine Leistungsmaschine war und ist. Sein menschliches Potenzial zeigt sich in einer besonderen Tiefe, die oft bei Künstlern zu finden ist. Wenn ich Svens Sprünge sehe, dann sind sie nicht nur weit oder kurz. Die Haltungsnote spiegelt den künstlerischen Aspekt wieder, aber auch, ob man diesem Sportler gerne zuschaut. Ob etwas durchscheint im Sprung, das mehr als nur Technik ist. Das ist es ja, auf das wir als Zuschauer eigentlich warten – dieses Beseelte eines Körpers. Man kann auch Charisma dazu sagen.
Steht dann die Krankheit auf einem ganz anderen Blatt?
Nein, nein! Neben seinen Schwächen, seinen unbewussten Konflikten ist diese Besonderheit seines Wesens gerade die Quelle seiner Leidensgeschichte. Wir können nur so viel leiden, wie wir seelisch differenziert sind. Das heißt nicht, dass uns gleichzeitig psychische Fähigkeiten – zum Beispiel der Selbstwahrnehmung, der Kommunikation oder der Gefühlsregulierung – fehlen und diese zu entwickeln sind. Und dennoch ist dieses Wesen wie unsere Quelle, aber auch wie eine Verpflichtung. Hieraus wird die Sehnsucht nach Erfüllung und Selbstverwirklichung gespeist.
Sven hat sich für eine Einzeltherapie entschieden. Wie oft haben Sie mit ihm gearbeitet?
Sven war fast neun Wochen bei uns in der Klinik. Wir haben uns fast täglich gesehen – und haben mindestens dreimal in der Woche intensiv gearbeitet –, außer in meinem Urlaub. Darüber hinaus sprachen der Chefarzt Dr. Klingelhöfer, meine anderen Mitarbeiter und Kollegen mit ihm, standen mit ihren unterschiedlichen methodischen Zugängen zur Verfügung. Herausheben möchte ich die naturheilkundliche, körperorientierte Behandlung, auch die Physiotherapie.
Warum kam eine Gruppentherapie für Sven nicht infrage?
Er wollte das nicht. Ich konnte ihn gut verstehen. Er wäre damit sicherlich überfordert gewesen. Die Patienten in der Gruppe erzählen alles von sich, sie können alles erzählen und sie sollen alles erzählen. Sven fühlte sich nicht sicher, dass das, was er in der Gruppe von sich preisgegeben hätte, auch in der Gruppe geblieben wäre. Er wollte, dass wirklich nichts nach außen dringt, also zum Beispiel an die Presse.
Worauf kommt es ganz am Anfang an?
Wenn jemand so erschöpft ist, so am Ende ist, wie Sven es war, dann geht es erst mal darum, dass er sich erholen kann, zu sich kommen kann. Dieses aus dem gewohnten Umfeld und den Anforderungen Herausnehmen ist bei Ausgebrannten sehr wichtig. Es ging anfangs vor allem um körperliche Fürsorge, ums Schlafen können. Er sollte auf den gewohnten, übermäßigen Sport verzichten und auf eingefahrene Essgewohnheiten.
Und dann?
Nach einer ersten Schonfrist, nachdem er sich immer mehr regeneriert hatte, konnten wir über seine aktuellen Konflikte, die wichtigen Beziehungspersonen und seine Biografie sprechen.
Was war das oberste Ziel seiner Behandlung?
Wir versuchten, einen geschützten Rahmen zu schaffen, in dem er körperlich und seelisch wieder zu Kräften kam. Daraufhin war das nächste Ziel, mit ihm die
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