Mein irisches Tagebuch
erzbischöflichen Palastes. Aufgerissen ist es an einer Flanke, wie ein gewaltsam geöffneter Körper, in dessen Eingeweide man schauen kann, schutzlos seit 150 Jahren - den Einsturz soll im Jahr 1847 ein Sturm bewirkt haben. In der Mitte ist eine Deckenfläche erhalten geblieben, einsehbar, wie eine Geologie damaliger Bautechnik. Wie ist sie da oben gezogen, wie das Gewölbe versteift worden? Gleichviel, dies war ein Herrschersitz, hoch über allem, was da unten kreuchte, fleuchte und sich duckte im Schatten einer geistlichen und weltlichen Zwingburg, die keinen Zweifel daran ließ, wer hier das Sagen hatte - die Kirche.
Auch der Rundturm von Cashel ist altersgefleckt und von Schimmel und Pilzen befallen, strahlt aber immer noch etwas von der Kraft aus, die seinem ursprünglichen Zweck entsprang. Und ausgerechnet dieser Recke, mit seinen über tausend Jahren das älteste von allen Bauwerken auf dem Rock of Cashel, hat sich als das widerstandsfähigste erwiesen.
Wo immer auf dem Rock of Cashel Waagerechte gezogen worden waren, hatte der Zahn der Zeit leichteres Spiel. Durch das offene Querschiff pfeift der Wind, und Krähen verschwinden flatternd im Gemäuer hinter den verfallenen Brüstungen des zentralen Turms und der Kathedrale. Verhallt der Lärm der Kämpfe von einst zwischen konkurrierenden, sich einander bekämpfenden Erzbischöfen christlicher Herrschergeschlechter; verblichen die Bilder der Erstürmungen, Belagerungen, Ausfälle.
Aber St. Patrick’s Cross, das Steinkreuz, in dessen Zeichen der Heilige Gründer des irischen Katholizismus und seine bischöflichen Nachfolger das keltische Druidentum besiegt haben, ist erhalten geblieben und soll die Zeiten überdauern. Das St.-Patrick’s-Kreuz draußen am Eingang befindet sich zwar an seinem ursprünglichen Standort, ist jedoch, Wind und Wetter ausgesetzt, eine Kopie. Das 1500 Jahre alte Original, mehr als die Hälfte der Zeit im Freien, steht nun geschützt im Kellergewölbe des »Saals der Chorvikare« (Hall of the Vicar’s Choral) des Besucherzentrums. Die »Halle« ist erst 1975, als Beitrag zum Europäischen Jahr der Baukunst, überdacht worden.
Spät, in zahlreichen Fällen bereits zu spät, wird ein armes Land sich seiner historischen Schätze bewußt.
Ein letzter Blick von hier oben auf das Golden Vale - das Goldene Tal -, wo die Ruinen der Zisterziensergründung Höre Abbey und eines verfallenen Dominikanerklosters sichtbar werden.
Von all dem völlig unberührt, schiebt ein junger Mann mit roter Pudelmütze eine motorisierte Grasmähmaschine und ihren geblähten Fangsack vor sich her, in immer neuen Bahnen und trotz des ohrenbetäubenden Lärms die Lippen lustig zum Pfeifen gespitzt.
Noch einmal von weitem dann, ein Blick auf die Anlage.
Klar, daß dies schon lange vor dem Triumph des Kreuzes ein heiliger Ort war, der Schauplatz keltischer Religiosität und ihrer uralten Druidenherrschaft. Überall hat die irische Kirche ihre Bauten auf die heiligen Stätten vorchristlichen Glaubens gepflanzt oder dort die Taufe vollzogen. Und doch ist etwas nachgeblieben von der Vorzeit, selbst wenn die früheren Zeichen ausgelöscht sind.
Ich habe das nirgends so stark empfunden wie auf dem berühmten Hill of Tara, Provinz Leinster, County Meath, wo einst der Hof der irischen Hochkönige stand, Volksversammlungen abgehalten wurden und Streit geschlichtet.
Es stürmte und regnete, als ich auf dem Hügel eintraf, und doch reichte schon ein einziger Blick weit hin über das Land für die Erkenntnis, daß dieser Platz nicht zufällig ausgewählt worden war, sondern die topographische Souveränität seine Wahl bestimmt hatte - wer hier herrschte, der hatte die politische und religiöse Macht.
Von den statdichen Bauten aus Holz oder dem verputzten Lehmfachwerk der keltischen Zeit, von der königlichen Festung, ihrem Bankettsaal und ihren Wällen ist nichts geblieben als ein paar imposante Erdbuckel, einst von Wall und Graben umgebene Hügelforts.
Und doch umflort eine seltsame Aura den Ort und seine Umgebung, hält sich hier hartnäckig Vorzeitliches, wirkt die mit einem eisernen Schloß versperrte Kammer und der von Kreisen und Rillen durchzogene Stein dahinter zugehörig, während das Hochkreuz und ein Grabstein mit der Jahreszahl 1798 wie Fremdkörper dastehen.
Man braucht kein Romantiker zu sein, um sich unter diesem Himmel zelebrierende Druidenpriester vorzustellen, Riten dienend, die viel älter waren als die christlichen - und die dennoch von ihnen
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