Mein irisches Tagebuch
große, Great Blasket, die der Gruppe den Namen gab - in Berg und Ebene geteilt, jetzt halb in der Sonne, halb im Schatten. Drumherum, wie felsige Ableger, die vier kleineren Inseln -nördlich Inishtooskert, südlich Inishnabro, Inishvickillane, und am weitesten draußen, nichts als eine Riffnadel mit Leuchtturm, Tearaght Island.
Während hier am Fuß des Slea Head, vierzig Meter unterhalb der Paßstraße, Granitzacken wie dunkle Dolche aus der Gischt hervorstoßen, darin verschwinden und strudelumflossen wieder auftauchen, wirken die Inselbrocken da drüben wie vom Festland losgesprengt, letzte Posten am geographischen Ende des alten Kontinents, dahinter bis zur nächsten Küste nichts als 5000 Kilometer Wasserwüste.
Was mich hierhergetrieben hat, ist ein Buch, in dessen Bann ich seit Wochen stehe: »Die Boote fahren nicht mehr aus« von Tomas O’Crohan. Es ist der Bericht eines 1856 auf der Großen Blasket-Insel geborenen Bauern und Fischers, das Hohelied auf seine Heimat, eine Welt, die bis in unser Jahrhundert so gut wie unberührt vom Einfluß der Moderne blieb. Aus den Briefen des Siebzigjährigen entstand eine Chronik, die 1929 veröffentlicht wurde, erst auf gälisch, O’Crohans Muttersprache, später auch auf englisch. Dank Annemarie und Heinrich Bölls sensibler Übersetzung liegt das einzigartige Dokument einer unwiederbringlich dahingegangenen Epoche irischer Geschichte auch in deutscher Sprache vor.
Süchtig danach, habe ich »Die Boote fahren nicht mehr aus« schon zweimal durchgelesen, hole es aber immer wieder hervor und vertiefe mich darin bis in die Nächte hinein.
Das Buch folgt weder kompositorischen noch literarischen Regeln, es erzählt sich vielmehr unverfälscht und ungekünstelt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir eines phänomenalen Gedächtnisses wie von selbst. Tomas O’Crohan, ein Mann, der nach landläufiger Auffassung als ungebildet gelten würde, erwies sich als später Ausläufer jahrhundertealter mündlicher Überlieferung, einer einst kraftvollen Volkskultur, die gerade noch Angehörige seiner Generation einschloß - sie war die letzte. Ohne seine Schilderungen wüßten wir wenig oder gar nichts von der magischen Originalität und der Härte eines Daseins, das auch für andere Regionen der irischen Westküste exemplarisch gewesen sein dürfte.
Auf der Großen Blasket lebten nie mehr als 150 Menschen. Tomas O’Crohan war einer von ihnen, und er war es durch und durch. Dennoch hob er sich von allen anderen ab durch jene unerhörte Begabung, für die sein Bericht Zeugnis gibt: sich ebenso kritisch wie genau zu erinnern, oder, wie er es selbst ausdrückt: »... die Eigenart der Menschen, mit denen ich lebte, festzuhalten. Denn Menschen wie uns wird es nie mehr geben.«
Immer ging es dabei um Elementares: um Brot und Fische, um Kartoffeln und Torf, um Tod und Leben. In seiner Definition: »In der Not kennen die Kräfte eines Mannes keine Grenze.« Und Not war immer.
So, wenn die Männer, meist Nichtschwimmer, in ihren offenen Booten durch die schwere Brandung zu den Felshöhlen der Großen Blasket-Insel ruderten, um Robben zu fangen. Nur mit Knüppeln bewaffnet, drangen zwei oder drei von ihnen in die Grotten ein, töteten die Tiere und ließen sie dann an Seilen herausziehen, eines nach dem anderen, oft die Arbeit eines ganzen Tages. Übermenschliche Anstrengungen, aber auch Gemetzel, nichts für Tierschützer, nur eine Notwendigkeit fürs Überleben der Familien: »Unser großes Boot war bis zum Dollbord beladen mit vier Robbenweibchen, zwei Bullen und zwei zweijährigen Tieren - ein Tier also für jeden Mann der Besatzung. Das gab für jeden ein ganzes Faß von Robbenfleisch, und das galt uns damals für ebenso gut wie ein Faß Schweinefleisch. Für die Häute bekamen wir acht Pfund Sterling.«
Allgegenwärtig die Sorge, einen plötzlichen Tod zu erleiden, in den Stürmen zu ertrinken, von den Brechern erschlagen zu werden oder auch, oft genug, langsam zu verhungern. Die Zeiten werden bewertet nach den Erträgen des Fischfangs, der Robbenbeute, der Ernte von Feldfrüchten.
Der Hauptbericht erstreckt sich auf die siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Tomas O’Crohan um die dreißig war. Damals starb sein Vater, und fünfzig Jahre später erinnert sich der Sohn, daß in jenem Todesjahr dreimal Hafer
geerntet werden konnte und daß die dritte Ernte die beste war.
Nichts ist vergessen, jede Einzelheit von damals präsent. Er memoriert, wer von
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