Mein irisches Tagebuch
Kinn.
Dann folgen Szenen, die das soeben Erlebte bei weitem übertreffen. Gegen Mittag finden die Apprentice Boys of Derry Unterstützung aus Portadown und Armagh durch unionisti-sche Kontingente, die schon angetrunken ankommen, sich aber fortwährend weiter alkoholisch aufheizen, indem sie grölend eine Bierdose nach der anderen leeren. Diese Jugendlichen beginnen am Diamond und in den Nebenstraßen Passanten, die sie für Katholiken halten, anzupöbeln, Frauen und Mädchen sexistisch zu beschimpfen, mit Flaschen zu werfen und auf alle loszugehen, die auch nur mit einer Geste Empörung und Widerstand andeuten.
Zwei Stunden lang brüllen junge Unionisten von der Mauer Schmähungen auf die Bogside hinunter, beleidigen die Anwohner der Fahane Street, die von Butcher’s Gate parallel zum Wall zur »Free Derry Corner« herabfuhrt, und überschwemmen Kinder da unten mit Flüchen und obszönen Bewegungen in der Genitalgegend, ohne daß ihnen Einhalt geboten wird. Viele haben sich der Uniform entledigt und geben ein gestikulierendes Schauspiel im Hemd ab. Während der ganzen Zeit greift die Polizei nicht ein einziges Mal gegen die außer Rand und Band geratenenen Krakeeler ein - was nicht bedeutet, daß sich die RUC an diesem 12. August in Londonderry gar nicht geregt hätte.
Am frühen Nachmittag schreitet sie ein - greift sich Passanten heraus, die sich die Provokationen nicht gefallen lassen, prügelt ein auf Gegendemonstranten, die sich formiert haben, läßt die Knüppel sausen und protzt Plastikgeschosse ab. Ich sehe, wie sich drei Polizisten auf einen Mann stürzen, dem von zweien die Arme nach hinten gedrückt werden, während der dritte ihm den Mund zuhält. Anderen, die zu Boden geworfen worden sind, wird der Stiefel in den Nacken gepflanzt, wieder anderen beim
Abführen der Kopf so weit in den Rücken gebogen, als sollte er vom Rumpf getrennt werden.
Eine ältere Frau wird abgeschleppt, an den Armen über den Boden geschleift, die Unterwäsche bis zu den Hüften entblößt. Dann bleibt sie liegen, an der Stelle, wo sie losgelassen worden ist.
Unter häufigem Gebrauch des Wortes »fuck« fordern Polizisten in der Shipquay Street die Passanten auf, die Straße zu räumen, und als ihnen das nicht schnell genug gelingt, stürmen die RUC-Leute auf die Menge los und schlagen auf sie ein. Schreie, Gerenne, Panik.
Ich frage mich: Wo bin ich eigentlich, in Europa? Und denke: Wer das nicht gesehen hat, der kann nicht glauben, wie hier mit Menschen umgegangen wird.
Währenddessen dröhnen am Diamond die lambeg drums, liegt über dem Zentrum von Londonderry wie eine akustische Glocke The Sash, werden Fahnen der Republik Irland angezündet, halten schärpendekorierte Jungmannen taumelnd die Embleme des protestantischen Ulster hoch empor - das rote Kreuz auf weißem Grund, Wimpel in den Farben des Orange-Ordens, schwere Standarten.
Und dazwischen immer wieder die heulenden Sirenen der armierten Landrover und das Platzgeräusch abgefeuerter plastic bullets - Geschosse, die auch töten können.
Gegen Mitternacht erklettere ich auf dem Fabrikgelände gegenüber dem Butcher’s Gate wieder den Treppenpodest. Die Unruhen haben sich nicht gelegt. In der Dunkelheit hastende Menschen, Rufe, aus der Stadt Kampflärm und Feuerschein.
Hat es je so etwas gegeben wie einen Waffenstillstand?
Ich stehe da oben und denke: In diesem Konflikt, klar, will ich auch das protestantische Nordirland hören. Aber mein Herz schlägt dabei auf der Seite der katholischen Minderheit von Ulster, und heute mehr noch als sonst.
Womit ich nicht allein stehe.
»Enough is enough!« Genug ist genug - so hatte gestern Conor Cruise O’Brian im »Irish Independent« geschrieben, ein Fazit. Und weiter: »Es ist an der Zeit, das traurige Ritual der Erniedrigung zu beenden. Über die letzten fünfzig Jahre sind
Protestanten die top dogs in Nordirland gewesen und haben ihren Status mißbraucht. Heute fühlen sich nicht mehr die Katholiken in der Kälte, sondern die Protestanten, und ihre Märsche sind heute nicht mehr ein Zeichen ihres Triumphes, sondern ihres Trotzes.«
Damit muß nun Schluß, muß endlich Schluß sein
»Am 12. August sind in Derry hundert Plastikgeschosse abgefeuert worden - schau mal«, Paul O’Connor zeigt mir ein Schreiben mit dieser Angabe, ein amtldiches Papier, ausgestellt von der Royal Ulster Constabulary, Brooklyn Knockroad, Belfast, am 22. August. Unterschrieben hat Superintendent for Chief Constable, R. A.
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