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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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und sich dabei von niemandem helfen lassen, als walte hier ein geheimer Ehrenkodex. Auch die Zahl der Polizisten vermehrt sich wie die der armierten Fahrzeuge, die nun eine Reihe bilden bis zur Wand mit der Aufschrift »You are entering Free Derry«.
    Paul O’Connor stellt eine Leiter auf, nahe der Royal Bastion, der Eckbastion mit dem weggesprengten Walker Memorial, und klettert die Sprossen hoch. Als ich ihm folge, sticht plötzlich dicht neben mir der Schlund einer schwarzglänzenden Kanone aus der Mauer hervor. Oben angekommen, finde ich mich der Apprentice Boys Memorial Hall ziemlich nahe. Ich sehe Polizisten, viele junge Leute, Standarten, Fahnen, höre Musik, Trommeln und Pfeifen, gewahre die hysterische Atmosphäre, die wie eine Wolke von dort herüberweht.
    Plötzlich geht ein Schrei durch die Menge an Butcher’s Gate -was nichts anderes bedeuten kann als die Nachricht, daß die Apprentice Boys die Genehmigung erhalten haben, auf der alten Route zu marschieren. Ich fliege die Leiter hinunter, laufe zum Tor, und da kommen auch schon die Polizisten von beiden Seiten und schließen die Demonstranten auf der Mauer ein.
    Es ist 9 Uhr 30.
    Ich postiere mich auf der Treppe eines gegenüberliegenden Fabrikgebäudes, so hoch, daß ich alles übersehen kann. Die Polizisten haben die Sturmriemen unters Kinn gezogen, stoßen aber auf keinen gewalttätigen Widerstand. Die Demonstranten, darunter viele Frauen und Jugendliche, haben sich auf die Erde gesetzt und warten, was da kommt. Unter ihnen Paul O’Connor. Ich sehe seine gedrungene Gestalt, das blasse Gesicht, die ungeheure innere Anspannung. Dann greifen die Polizisten zu, schleppen die Leute ab, einen nach dem anderen, ohne daß sich einer wehrt.
    Das ist einem Mann zu verdanken, der mitten in der Menge steht, mit weit ausgebreiteten, beschwichtigenden Armen - Martin McGuinnes, Stellvertreter des Sinn-Fein-Vorsitzenden Gerry
    Adams. Ihm wird gehorcht, obgleich manchem der Abgeschleppten wohl nach Widerstand zumute ist. »Keep calm!« ruft Martin McGuinnes, »keep calm!« Ja, es ist gut, daß die Ruhe bewahrt wird, ich mag mir nicht ausmalen, was sonst passieren würde. Niemand braust auf, sie lassen sich wegtragen, als wäre es ein verabredetes Spiel. Dennoch bleibt es ein unheimliches Bild, wie die Menschen da drüben von den Uniformierten einzeln die Treppe zur Innenseite der Mauer herabgefuhrt werden, wo sie sich dann unten in der Magazine Street von beiden Seiten durch starke RUC-Verbände eingekesselt sehen.
    Sollen sie etwa gezwungen werden, von hier dem Marsch der Boys zuzusehen? Das wäre der Gipfel politischer Niedertracht. Aber das scheint tatsächlich beabsichtigt. Denn jetzt dröhnen von der Memorial Hall her Trommelschläge, klirren Pfeifen - die Apprentice Boys of Derry setzen sich in Marsch.
    Es ist Punkt 10 Uhr.
    Und da kommen sie, vorneweg die Senioren mit Bowler und Regenschirm, dahinter Standarten, Fahnen und ein langer, langer Zug junger Männer in Dreierreihen. So passieren sie unter den Klängen von The Sash Butcher’s Gate mit starr geradeaus gerichteter Miene - an diesem Tag und auf dieser Route hoch über der Bogside eine eindeutige, offene und bewußt organisierte Provokation. Sie haben gesiegt, die protestantischen Ulsterunio-nisten, haben es geschafft, und man merkt es ihnen an, ihrer gewölbten Brust, ihren lodernden Mienen, der Inbrunst, mit der sie auf die lambeg drums einschlagen.
    Nur eines gelingt ihnen nicht - und das bleibt für mich das eindrucksvollste aller Bilder vom Vormittag dieses 12. August: daß die eingekesselte Menge da unten ihrem Triumph zuschaut. Mit dem Gesicht zur Häuserwand, den Rücken zur Mauer, beide Hände mit abgespreizten Fingern zum Victoria-Zeichen in die Höhe gehalten - so haben Hunderte sich da unten in der Magazine Street wie ein Mann abgekehrt. Ein Wald von Armen ist das und eine Szene von hoher Disziplin, kaum daß aus den abgekehrten Reihen Rufe wie »You bastards!« hochschallen oder Fäuste geschüttelt werden.
    So bleiben sie stehen, lange nachdem der Zug verschwunden ist und von der anderen Seite der Stadtmauer über den
    Diamond hinweg nur noch die Töne des Schärpenmarsches gebrochen herüberwehen. Erst dann öffnen sich die Polizeipfropfen auf beiden Seiten der Eingekesselten, kann sich die Menge auflösen, tut es, langsam und geordnet, während die RUC-Leute in ihren dunklen Uniformen und den Mützen mit dem starken Schirm auf der Mauer bleiben, die Sturmriemen immer noch unterm

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