Mein irisches Tagebuch
Campbell, mit formvollendeter Anrede »Dear Mr. O’Connor« und dem Schluß »Yours sincerely...«, beides handgeschrieben.
»Ich hatte dort angefragt, und sie haben geantwortet, mit reiner Weste, unbedeckt. Die RUC-Leute haben nichts zu verheimlichen, fühlen sich im Recht, absolut und ohne Abstriche. Das ist die Polizei von Ulster - bekennt sich blauäugig zu hundert auf Zivilisten abgefeuerte Plastikgeschosse.«
Er steckt das Schreiben wieder ein, vorsichtig, wie etwas Wichtiges, Bewahrenswertes. Dann sagt er: »Tote hat es am 12. August nicht gegeben, aber Verletzte - Prellungen, Brüche, Behandlungen in Krankenhäusern. Mich hat’s auch erwischt, ziemlich übel sogar, aber nicht so schlimm wie andere.«
Paul O’Connor sitzt mir gegenüber, wieder in dem handtuchschmalen Gärtchen seines Hauses in der Grafton Street von Rosemount, wie bei unserem ersten Gespräch, drahtig und ungebeugt, aber, scheint mir, um eine Spur gedämpfter. Ich habe den Eindruck, als habe er Schmerzen, wolle jedoch nicht darüber sprechen. Ehrenkodex oder persönliche Zurückhaltung? Ich frage lieber nicht nach. Wieder steht das Tongerät auf dem Tisch, und wieder werde ich auch diesmal bei der Niederschrift sein drolliges Mannheimer »nit« nicht ins Hochdeutsche verwandeln.
»Ich fahre bald nach Deutschland zurück. Sag mir noch, was du für wichtig hältst.«
»Das Wichtigste hast du gerade selbst miterlebt - wir brauchen eine andere Polizei. Du hast ja gesehen, wie die RUC mit uns umgeht. Sie hat zu viele Menschenrechtsverletzungen begangen, ohne daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen zu haben. Statt zu erkennen, daß sie ein Teil des Problems ist, hält sie sich für einen Teil seiner Lösung. Das macht den Umgang mit ihr so schwierig. Für uns Nationalisten und Republikaner ist die RUC gar keine Polizei, sondern eine militärische Organisation auf seiten des Gegners. Sie hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine paraterroristische Vergangenheit und müßte, wie es bei euch im Hinblick auf das Naziregime heißt, ihre Vergangenheit bewältigen - natürlich mit anderen, eigenen Vorzeichen. Darum wird sie nicht herumkommen.«
»Und weiter - was muß geschehen?«
»Noch einmal: Wir müssen neue Strukturen schaffen, müssen miteinander reden, um diese Strukturen zu schaffen.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, zum Beispiel, eine Gesellschaft aufbauen, in denen beide Kirchen, die protestantische und die katholische, im Hintergrund stehen, in Nordirland wie in der Republik; heißt, eine Gesellschaft aufbauen, die es dem Klerus unmöglich macht, die Gesetze zu bestimmen; heißt, eine Verfassungswirklichkeit schaffen, in der die Menschenrechte gesichert sind, und das, was am 12. August geschehen ist, unmöglich, undenkbar wird.«
»In einem einheitlichen Irland?«
»Wenn es nach mir ginge - ja. Aber mit neuen Strukturen. Ich mag das Wort Wiedervereinigung nicht, weil es etwas herstellen will, was es nie gegeben hat. Es hat nie ein Selbstbestimmungsrecht für Iren gegeben, seit dem 12.Jahrhundert. Was also soll da wiedervereinigt werden? Das sind alte Vokabeln. Wir müssen zu einem neuen, einem jungen Verhältnis zueinander kommen, Republikaner und Unionisten, Loyalisten und Nationalisten. Das geht, trotz allem.«
»Was tut ihr dazu? Sprecht ihr mit ihnen darüber?«
»Da geschieht mehr, als man denkt und nach außen bekannt ist. Die meisten haben die Schnauze voll von Gewalt, auf beiden
Seiten. In den Stadtteilen gibt es Verbindungen, wir reden miteinander, reden sogar mit ihren Anführern, auch wenn wir vollkommen anderer Meinung sind. Weil wir müssen. Es gibt nur diesen Weg. Und weil er lang ist, muß er jetzt begangen werden, nicht morgen, nicht nächstes Jahr.«
»Aber es bleibt dabei: Die Mehrheit in Ulster entscheidet über ihren Status und ihre staatliche Zugehörigkeit?«
»Wie denn anders? Nur - die Zustände brauchen nicht so zu bleiben, wie sie sind. Ich werde nie einen Staat akzeptieren, der mich nicht akzeptiert, der meine Rechte, meine Kultur nicht wahrnimmt.«
»So wie der irische Staat, die irische Gesellschaft, die du ersehnst, jedermanns Rechte und die Kultur anerkennen würde?«
»Alles andere wäre auf Sand gebaut, alles andere trüge nur den Keim weiterer Gewalt in sich.«
Wieder ist es dunkel geworden, wieder sehe ich Paul O’Connors unverwechselbar irisches Gesicht nur noch wie einen hellen Klecks, als er leise sagt: »Glaube mir, wir könnten hier ganz friedlich, ganz unangefochten leben -
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