Mein ist dein Herz
diese so leise vor, dass nur ich es vernehmen kann, kramt ein Feuerzeug heraus und reicht es Nancy. »Ich komme gleich wieder.«
»Soll ich mitkommen?«, frage ich und halte sie am Arm zurück.
»Nein ... bleib hier. Dauert auch gar nicht lange«, verspricht sie. Nur zu widerwillig lasse ich sie gehen und verfolge sie, solange es geht, mit dem Blick.
War sie nicht eben auf der Toilette? Merkwürdig! Äußerst merkwürdig sogar!
»Ist was los?«, fragt Nancy.
Ja, Wilder! Was zum Teufel ist da los? , frage ich mich selbst.
Unschlüssig, was ich sagen soll, zucke ich mit den Schultern, nehme ihr das Feuerzeug ab und spiele mit dem Luftbläschen in seinem Inneren das berühmte ›Sanduhrspiel‹. Nur dass es kein Sand ist, es weniger Spaß macht und auch nicht einen Gedankenknoten löst.
»Keine Ahnung«, gebe ich zu.
»Habt ihr euch gefetzt?«, mischt sich nun auch Dean mit ein.
»Nein.«
»Was hast du schon wieder angestellt, Bruderherz?«
»Nichts ... Hoffe ich zumindest.«
»Spann uns doch nicht auf die Folter, Sean!«, bittet Cicy.
»Es war nichts. Mir ist nur heute Janes Gedichteband in die Hände gefallen ...«
»Oh nein!«, ruft sie und schlägt sich die Hand vor den Mund. »Sag bloß, du hast sie deswegen ausgelacht ...?«
»Spinnst du? Mir wäre so etwas nicht einmal im Traum eingefallen. Ich habe es einfach nur gelesen ...«
»Alles?«, fragt sie nun äußerst verwundert und wirkt noch um einiges verblüffter, als ich ihre Frage mittels eines Nickens bejahe. »Wow! Das hat meines Wissens noch niemand zuvor geschafft ...«
»Was sind denn das für Gedichte?«, mischt sich nun auch der neugierige Riese mit ein.
»Das ist Janessas ›Red Book‹ ...«, klärt ihn seine Freundin auf.
»Erotik?«, rät er.
»Schön wärs ... in dem Fall denke ich, dass die Farbwahl des Buchs das Ausbluten ihrer Seele symbolisiert«, sagt Nancy und verrät durch ihren bedrückten Gesichtsausdruck, dass es ihr genauso nahe geht, wie mir. Ihre Umschreibung trifft es so genau, dass selbst ich den Kloß spüre, welchen sie trotz mehrmaligen Schluckens einfach nicht runterbekommen kann.
»So schlimm?«, fragt Dean.
»Ich würde es nicht als schlimm bezeichnen«, wende ich ein. »Es ist eher ...«
»... traurig«, beendet Cicy meinen angefangenen Satz. »Jane nimmt ihr gesamtes Umfeld ganz anders wahr, als ich oder du ... Viel sensibler, intensiver ...«
»... ehrlicher ...«
Der besorgte Blick meines Bruders bohrt sich in mein Gesicht. Ich sehe ihm seinen Wunsch, mich eingehender auszufragen, deutlich an, kenne aber auch den Grund für seine Zurückhaltung. Jeder in unserer Familie hat einst die Lektion gelernt, dass man sich durchaus um den anderen sorgen darf, seine Hilfe jedoch niemals aufzwingen sollte. Solange ich selbst klarkomme und damit leben kann, wird sich niemand von ihnen einmischen.
»Willst du mit ihr darüber sprechen?«, erkundigt sich Nancy leise.
»Denkst du, dass es sinnvoll wäre?«
»Ich muss gestehen, dass du nicht der erste Mann bist, der mir diese Frage stellt ... Muss ich mir jetzt also Sorgen machen? Der Letzte hat immerhin für ein paar Einträge in dieses Buch gesorgt.«
»Bestimmt nicht!«, antworte ich. Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Janes Schweigen.
Die eindringlichen Blicke.
Die Laune ...
ALL das spricht doch Bände!!!
Wie konnte ich die ganzen Zeichen übersehen?
Kann mich bitte jemand ohrfeigen?
Ganz im Ernst, ich gefühlloses Schwein habe nichts anderes verdient.
Hilft jetzt alles nichts!
Mit einem »Entschuldigt mich ...«, dass ich über die Schulter werfe, stürze ich auf der Stelle zum Ausgang.
J ane entdecke ich unweit des Eingangs. Sie hat sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt, den Kopf an die Wand gelehnt und zieht gerade kräftig an ihrer Zigarette. Das immer wieder auftretende Zittern bekämpft sie dadurch, dass sie sich offensichtlich vollständig entspannt und dabei Hände und Schultern hängen lässt.
Im Großen und Ganzen bietet sie ein äußerst beängstigendes Bild, wenn man, ähnlich wie ich, gerade erst einen Blick hinter die Fassade der starken, gefühlskalten Frau geworfen hat.
Erst als ich direkt vor ihr stehe, und sie an der Hüfte zu mir und hierdurch von der Wand wegziehe, fällt ihr überhaupt auf, dass sie nicht mehr allein ist. Und ich will eigentlich ihren Leichtsinn kritisieren, ja sie am liebsten sogar übers Knie legen, da fallen mir allerdings ihre zitternden Finger und der tränenverhangene Blick auf.
Weitere Kostenlose Bücher