Mein ist die Stunde der Nacht
Weihnachtstagen habe ich einige Tage bei meiner Mutter verbracht, die jetzt wirklich glücklich zu sein scheint. Sie hat mich mit ihrem Mann ein paar Mal besucht. Ich gebe zu, dass es mir noch manchmal den Hals abschnürt, wenn ich sehe, wie die beiden sich an der Hand halten und miteinander turteln, und ich daran denken muss, wie sie mit meinem Vater umgegangen ist. Aber ich glaube, dass ich drüber weg bin und ihnen keine Vorwürfe mehr mache, bis auf die Tatsache, dass ich damals mit achtzehn Jahren so wenig auf ihre Hilfe bauen konnte.«
»Meine Mutter ist gestorben, als ich studiert habe«, sagte Mark. »Niemand hat mir mitgeteilt, dass sie einen Herzanfall gehabt hat und im Sterben lag. Ich hätte mich sofort in ein Flugzeug gesetzt und wäre nach Hause gekommen, um Abschied zu nehmen. Aber sie hat nicht nach mir verlangt. Im Gegenteil, sie hat gesagt, sie will mich nicht sehen. Es war wie eine endgültige Zurückweisung. Ich bin nicht zu ihrem Begräbnis gegangen. Danach bin ich nie wieder nach Hause
gefahren, und zwischen meinem Vater und mir hat vierzehn Jahre lang vollkommene Funkstille geherrscht.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich Psychotherapeut geworden bin. ›Werde Arzt und heile dich selbst‹. Ich versuch’s noch immer.«
»Was waren das für Fragen, die du deinem Vater stellen wolltest? Du hast gesagt, er hätte sie beantwortet.«
»Die erste Frage war, warum er mich nicht verständigt hat, als meine Mutter im Sterben lag.«
Jean legte beide Hände um ihre Tasse und hob sie hoch. »Was hat er geantwortet?«
»Er hat gesagt, dass meine Mutter begonnen habe, unter Wahnvorstellungen zu leiden. Kurz vor ihrem Herzanfall hat sie einen Wahrsager aufgesucht, der ihr erzählt hat, ihr jüngerer Sohn habe die Handbremse absichtlich gelöst, weil er eifersüchtig auf seinen Bruder gewesen sei und ihm etwas habe antun wollen. Mutter hatte immer an die Möglichkeit geglaubt, dass ich es nur auf Dennis’ Auto abgesehen hätte, aber dieser Wahrsager hat ihr den Rest gegeben. Das könnte sogar die Ursache für ihren Herzanfall gewesen sein. Willst du auch die andere Frage hören, die ich meinem Vater gestellt habe?«
Jean nickte.
»Meine Mutter konnte Alkohol nicht ausstehen, mein Vater trank jedoch gern sein Gläschen am späten Nachmittag. Oft schlich er sich in die Garage, wo er immer ein Fläschchen im Regal hinter den Farbkanistern versteckt hielt, oder er gab vor, das Innere des Autos reinigen zu wollen, und feierte dort seine kleine private Cocktailparty. Manchmal setzte er sich auch in Dennis’ Auto, um sein Gläschen zu kippen. Ich weiß, dass ich die Handbremse angezogen gelassen habe. Ich weiß, dass Dennis nicht bei seinem Auto war. Er spielte unten Basketball mit seinen Freunden. Meine Mutter hat sich ganz sicher nicht in das Kabrio gesetzt. Also habe ich meinen Vater gefragt, ob er seinen Scotch an jenem Nachmittag in Dennis’ Auto getrunken hat, und wenn ja, ob es
nicht möglich ist, dass er die Handbremse aus Versehen gelöst hat.«
»Was hat er geantwortet?«
»Er hat zugegeben, dass er in dem Auto saß und nur wenige Minuten bevor es die Auffahrt hinuntergerollt ist, ausgestiegen ist. Er hat nie den Mut gehabt, es meiner Mutter zu sagen, nicht einmal, als dieser Wahrsager sie gegen mich aufgehetzt hat.«
»Warum, glaubst du, hat er es jetzt zugegeben?«
»Ich bin neulich Abend in der Stadt herumgelaufen und habe darüber nachgedacht, wie viele Menschen ihre ungelösten Konflikte ihr ganzes Leben mit sich herumschleppen. Mein Terminkalender ist voll von Patienten, die gute Beispiele dafür abgeben. Als ich das Auto meines Vaters in der Auffahrt stehen sah – derselben Auffahrt übrigens –, beschloss ich, zu ihm zu gehen und mich nach vierzehn Jahren Schweigen endlich mit ihm auszusprechen.«
»Du warst gestern bei ihm, und du gehst heute Abend wieder zu ihm. Heißt das, ihr habt euch versöhnt?«
»Er wird bald achtzig, Jean, und es geht ihm nicht gut. Er hat fünfundzwanzig Jahre mit einer Lüge gelebt. Ich habe fast Mitleid mit ihm, wenn er davon spricht, dass er es wiedergutmachen wolle. Natürlich geht das nicht, aber indem ich ihn sehe und mit ihm spreche, werde ich ihn besser verstehen und darüber hinwegkommen. Und mit einem hat er Recht: Wenn meine Mutter erfahren hätte, dass er im Auto getrunken und den Unfall verursacht hat, hätte sie ihn noch am selben Tag verlassen.«
»Stattdessen hat sie sich von dir abgewandt.« »Was
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