Mein ist die Stunde der Nacht
ausgestreckt auf dem Boden, die Waffe daneben. Der Mörder war auf den Rücken gefallen. Die Maske saß immer noch auf seinem Gesicht, Blut sickerte darunter hervor.
Sam hockte sich hin, zog die Maske ab und blickte in das Gesicht des Mannes, der so vielen unschuldigen Menschen das Leben geraubt hatte. Im Tod traten die Narben, die die plastische Chirurgie hinterlassen hatte, deutlich hervor, und die Gesichtszüge, die ein Könner der Zunft so attraktiv gestaltet hatte, erschienen jetzt verzerrt und abstoßend.
»Komisch«, sagte Sam. »Gordon Amory hatte ich eigentlich am wenigsten in Verdacht.«
97
AM SELBEN ABEND ASS Jean mit Charles und Gano Buckley im Haus von Craig Michaelson zu Abend. Meredith befand sich bereits wieder in West Point. »Nachdem der Arzt mit der Untersuchung fertig war, hat sie darauf bestanden, zurückzukehren«, sagte General Buckley. »Sie dachte schon wieder an ihre Physikprüfung morgen Früh. Sie ist so diszipliniert. Sie wird eine großartige Soldatin werden.« Er versuchte zu verbergen, wie sehr ihn die Nachricht getroffen hatte, dass seine Tochter dem Tod so knapp entronnen war.
»Sie ist wirklich ganz nach ihrem Vater geraten«, sagte Jean. »Reed hätte sicher genauso gehandelt.« Danach wurde sie schweigsam. Sie spürte immer noch die unaussprechliche Freude des Augenblicks, in dem der Polizist sie von ihrem Stuhl losgeschnitten hatte und sie Lily endlich in die Arme schließen konnte. Noch immer hallten die wunderbaren Worte in ihrem Kopf nach, die Lily geflüstert hatte: »Jean … Mutter.«
Dann hatte man sie ins Krankenhaus zur Untersuchung gebracht. Dort hatten Lily und sie nebeneinander gesessen und geredet, hatten angefangen, fast zwanzig Jahre nachzuholen. »Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, wie du aussiehst«, hatte Lily gesagt. »Ich glaube, ich habe dich genauso gesehen, wie du bist.«
»Mir geht es genauso. Ich muss erst noch lernen, dich Meredith zu nennen. Es ist ein schöner Name.«
Nachdem der Arzt erklärt hatte, dass alles in Odnung sei, sagte er: »Nach dem, was Sie durchgemacht haben, hätte man den meisten Frauen erst mal ein Beruhigungsmittel verabreicht. Ich muss sagen, Sie beide sind wirklich starke Naturen.«
Danach hatten sie bei Laura vorbeigeschaut. Sie war ernsthaft dehydriert; man hatte sie an einen Tropf gehängt und in einen künstlichen Heilschlaf versetzt.
Sam war zum Krankenhaus zurückgekehrt, um sie zum Hotel zu fahren. In der Eingangshalle waren ihnen bereits die Buckleys entgegengekommen. »Mom, Dad!«, hatte Meredith ausgerufen. Mit wehmütigem Verständnis hatte Jean zugeschaut, wie sie in ihre Arme geflogen war.
»Jean, Sie haben ihr das Leben geschenkt, und Sie haben ihr das Leben gerettet«, sagte Gano Buckley ruhig. »Von nun an werden Sie immer ein Teil ihres Lebens sein.«
Jean blickte über den Tisch auf das Paar. Beide mussten um die sechzig Jahre alt sein. Charles Buckley hatte stahlgraue Haare und stechende Augen, er war kräftig gebaut und strahlte Autorität aus, die durch seine liebenswürdige Art und sein freundliches Lächeln aufgewogen wurde. Gano Buckley war eine diskret hübsche, zierliche Frau, die eine kurze Karriere als Konzertpianistin hinter sich hatte, bevor sie die Gattin eines Militärs wurde. »Meredith spielt sehr schön«, erzählte sie Jean. »Sie müssen sie unbedingt hören.«
Sie hatten verabredet, Meredith am Samstagnachmittag zu dritt in der Militärakademie zu besuchen. Sie sind ihre Mutter und ihr Vater, dachte Jean. Sie haben sie aufgezogen, für sie gesorgt, sie geliebt und sie zu der wunderbaren jungen Frau gemacht, die sie heute ist. Aber wenigstens habe ich jetzt auch einen Platz in ihrem Leben. Am Samstag werde ich mit ihr zu Reeds Grab gehen, und ich werde ihr von ihm
erzählen. Sie soll erfahren, was für ein bemerkenswerter Mensch er war.
Für sie hatte dieser Abend einen bittersüßen Beigeschmack, und die Buckleys zeigten vollstes Verständnis dafür, dass sie, bald nachdem der Kaffee serviert worden war, ihre Erschöpfung ins Feld führte und bat, aufbrechen zu dürfen.
Als Craig Michaelson sie gegen zehn Uhr am Hotel absetzte, traf sie in der Eingangshalle auf Sam Deegan und Alice Sommers, die auf sie gewartet hatten.
»Wir haben gedacht, Sie möchten vielleicht gerne noch ein Gläschen mit uns trinken«, sagte Sam. »Trotz all der Glühbirnen-Vertreter hier hat man uns einen Tisch in der Bar freigehalten.«
Mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen blickte Jean von
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