Mein Jahr als Mörder
bitte.
Überraschung aus Hampstead
Und Catherine, natürlich schwärmte sie von London, von Hugo, von den Boutiquen und den höflichen Leuten, von der Subway und den Beatclubs, nur das freak out gebe es nicht mehr. Zum Glück brachte sie mehr als einen Koffer voll Klischees mit, eine neue liveliness o fmind, einen Begriff, den ihr Hugo geschenkt hatte und den sie wie einen unsichtbaren Orden trug. Nach den Strapazen der anderthalbtägigen Reise, im Zug nach Harwich, im Schiff über den Kanal bei Windstärke 6, im Zug von der holländischen Küste durch zwei deutsche Länder bis Berlin, war sie mir schon am Bahnhof Zoo auffällig munter erschienen. Meine skeptischen Blicke wurden eindeutig beantwortet. Nein, lachte sie, ich hatte nichts und habe nichts mit Hugo!
Der Engel aus London habe sich auch in seiner Stadt als perfekter Gentleman und diskreter Begleiter erwiesen, nicht nur das Zimmer bei einer Freundin besorgt, auch die abendlichen Streifzüge, Treffen mit Freunden, indisches Essen, Gespräche über Mexiko und die Dritte Welt, alles anregend, begeisternd. Zwei Trips hatte sie mitgemacht, die reichten für die Klarheit: Das Zeug zieht mich eher runter, dieser knallbunte Taumel ist nichts für eine Schwarzweißfotografin.
- Nur Yoko Ono hab ich nicht getroffen, sagte sie, aber sie war ja mit Lennon im Hilton-Bett in Amsterdam bei ihrem komischen Love-in, ich hätt sie gern gefragt, ob sie sich noch an dich erinnert.
- Eifersüchtig?
- Und wie! Und du auf John Lennon?
- Und wie!
Catherine wirkte, als hätte sie entschieden, nicht nachtragend zu sein. Das muss auf eine vertrackte Weise, die mir erst später zu grübeln gab, mit dem in London bestärkten Entschluss zu tun gehabt haben, in Mexiko in den Slums und bei den Indios zu fotografieren. Ende August, so war es geplant, wollte sie mit ihrer Freundin Astrid fliegen und fünf Wochen im Land herumreisen und Hugos Tipps folgen.
Neue Theorien über das Fotografieren schwirrten ihr durch den Kopf, die heute plakativ wirken, damals jedoch als neu, differenziert, emanzipatorisch galten: Man müsse sich
entscheiden, ob man das Leben zeigen wolle oder den Tod. Sie hatte eine Ausstellung von Vietnamfotos gesehen, brutal und genau, abgeschlagene Köpfe, erschossene Leiber, die vielen Hundertstel Sekunden des Sterbens.
- Wenn du sie siehst, vier Soldaten, Gesichter wie auch sonst in Fotoalben, die auf den Auslöser warten. Die müssen ja alle mal was gehört haben von ihrer wunderbaren Verfassung, der
Bill of Rights, und machen ihr Cheese-Gesicht, und zwei von ihnen halten Köpfe an den Haaren, die an zwei Leichen, die weiter vorne liegen, fehlen. Enorme Fotos, sagte sie, mit aufklärender, vielleicht kathartischer Wirkung, aber ich ziehe daraus die Lehre: Krieg und Tod, Männer sache, nichts für mich.
Auch Berlin komme ihr vor wie Krieg, jeder gegen jeden, nichts weiter. Sie wolle, sagte sie etwa, das Leben zeigen, aber nicht das satte Leben. In Mexiko werde sie von vorn anfangen und das nach Veränderung gierende Leben suchen, aus dem Blick der Frau.
Die Überraschung, und deshalb gehört Catherines Londonreise in mein Geständnis, war das Buch, das sie mir mitbrachte. Ich hatte ihr ein Antiquariat in Hampstead empfohlen, in dem zwei Emigranten aus Wien die besten Bücher günstig anboten, auch Kunst- und Fotobücher.
- Hier, ich hab was für dich, sagte sie, Der Schattenmann, ich dachte erst, es hat mit Licht, mit Fotografie zu tun, sonst hätt ich nicht danach gegriffen. Hab ein bisschen geblättert, ein Tagebuch aus dem Krieg, wollte es schon weglegen, und was seh ich da, hier.
Sie schlug eine Seite auf und zeigte auf eine Zeile des harten, grauen Papiers: Großcurth, Havemann, Richter, Rentsch. Groscurth war, wie so oft, falsch geschrieben.
- Und auf der nächsten Seite steht, wie sie hingerichtet wurden, grauenvoll.
Außer in Weisenborns Der lautlose Aufstand hatte ich die vier Namen noch nie zusammen in einem Buch gesehen. Und nie gehört von dieser Frau Andreas-Friedrich, das Buch war 1947 erschienen, offenbar völlig vergessen. Wieso kannte diese Frau die Europäische Union, was wusste sie? Ich las zwei Seiten über die Hinrichtungen im Zuchthaus Brandenburg, ich blieb lange Zeit sprachlos.
Seitdem beklagte sich Catherine nie mehr über meine Groscurth-Arbeit. Ich unterstützte ihre Mexiko-Pläne, und so begannen unsere schönsten, letzten Monate.
Der 8. Mai
Heute ist Montag, der 8. Mai r schreibt Georg auf einen Zettel. Ist es der letzte Tag?
Weitere Kostenlose Bücher