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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Umrisse des Kalksteins hervor. Die vorderste Stellung bestand hier nicht aus einer zusammenhängenden Linie von Schützengräben, das wäre in einem solch bergigen Gelände unmöglich gewesen. Es war einfach eine Kette befestigter Posten, die man jeweils »Stellung« nannte und die auf jeder Hügelkuppe saßen. In einiger Entfernung konnte man unsere »Stellung« auf dem Scheitelpunkt des Hufeisens sehen: eine zerfetzte Barrikade aus Sandsäcken, eine flatternde rote Fahne und der Rauch der Feuer in den Unterständen. Wenn man etwas näher kam, konnte man einen ekelerregenden, süßlichen Gestank riechen, der sich noch viele Wochen hinterher in meiner Nase hielt. Unmittelbar hinter der Stellung war der Müll vieler Monate in die Schlucht gekippt worden – eine tiefe Schwäre aus Brotkrusten, Kot und rostigen Blechdosen.
    Die Kompanie, die wir ablösten, packte gerade ihre Ausrüstung zusammen. Die Leute hatten drei Monate an der Front gelegen. Schlamm backte an ihren Uniformen, ihre Stiefel fielen auseinander, und ihre Gesichter waren größtenteils von Bärten bedeckt. Der Hauptmann, der den Befehl über die Stellung hatte, kroch aus seinem Unterstand und begrüßte uns. Er hieß Levinski, aber jeder kannte ihn unter dem Namen Benjamin. Von Geburt war er ein polnischer Jude, aber seine Muttersprache war Französisch. Der kleine junge Kerl, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hatte straffes schwarzes Haar und ein bleiches, lebhaftes Gesicht, das während dieser Periode des Krieges immer sehr schmutzig war. Einige verirrte Kugeln pfiffen hoch über unseren Köpfen. Die Stellung bestand aus einer halbkreisförmigen Einfriedung mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern und einer Brustwehr, die teilweise aus Sandsäcken und teilweise aus Kalksteinbrocken bestand. Dreißig oder vierzig Unterstände verliefen wie Rattenlöcher in den Boden. Williams, ich selbst und Williams’ spanischer Schwager stürzten uns sofort auf den nächsten unbesetzten Unterstand, der bewohnbar aussah. Irgendwo vor uns knallte von Zeit zu Zeit ein Gewehr und verursachte ein merkwürdig rollendes Echo zwischen den steinigen Hügeln. Wir hatten gerade unser Gepäck hingeworfen und krochen aus dem Unterstand hinaus, als es wiederum knallte und eines der Kinder unserer Kompanie von der Brustwehr zurückstürzte, das Gesicht voll von Blut. Er hatte sein Gewehr abgefeuert und es irgendwie fertiggebracht, das Schloß herauszusprengen. Seine Kopfhaut war durch die Splitter der explodierenden Patronenhülse zerfetzt worden. Er war unser erster Verwundeter, und zwar durch eigenes Verschulden.
    Am Nachmittag zogen wir zum erstenmal auf Wache, und Benjamin zeigte uns die ganze Stellung. Vor der Brustwehr lief ein System von engen, aus dem Fels gehauenen Schützengräben mit äußerst primitiven Schießscharten, die aus Kalksteinhaufen bestanden. Zwölf Wachtposten standen an verschiedenen Punkten im Schützengraben und hinter der inneren Brustwehr. Vor dem Schützengraben lag Stacheldraht, und dann glitt der Abhang in eine anscheinend bodenlose Schlucht hinab. Gegenüber lagen nackte Hügel, stellenweise schiere Felsklippen, grau und winterlich, nirgendwo Leben, nicht einmal ein Vogel. Ich spähte vorsichtig durch eine Schießscharte und versuchte, den faschistischen Schützengraben zu finden.
    »Wo ist der Feind?«
    Benjamin winkte ausholend mit seiner Hand. »Dort drüben.« (Benjamin sprach englisch – aber ein furchtbares Englisch).
    »Aber wo?«
    Meiner Vorstellung vom Schützengrabenkrieg entsprechend sollten die Faschisten fünfzig oder hundert Meter weit entfernt liegen. Ich sah nichts – anscheinend waren ihre Schützengräben sehr gut versteckt. Dann sah ich erschrocken und entsetzt, wohin Benjamin zeigte: zur gegenüberliegenden Hügelkuppe. Jenseits der Schlucht, mindestens siebenhundert Meter weit weg, die dünnen Umrisse einer Brustwehr und eine rot-gelbe Fahne – die faschistische Stellung. Ich war unbeschreiblich enttäuscht. Wir waren ihnen nirgendwo nahe! Auf diese Entfernung waren unsere Gewehre vollständig nutzlos. In diesem Augenblick ertönte ein aufgeregtes Geschrei. Uns gegenüber krochen zwei Faschisten, graue Figuren in weiter Entfernung, den nackten Abhang hinauf. Benjamin ergriff das Gewehr des neben uns stehenden Mannes, zielte und drückte ab. Klick! Ein Versager; ich hielt es für ein schlechtes Omen.
    Die neuen Wachtposten waren kaum im Schützengraben, als sie schon ein fürchterliches Gewehrfeuer ins Ungewisse

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