Mein Katalonien
Sie sah aus, als ob ihre Lebensarbeit darin bestünde, eine Wiege zu schaukeln. In Wirklichkeit aber hatte sie bei den Straßenschlachten im Juli tapfer gefochten. Augenblicklich trug sie ein Baby mit sich, das gerade zehn Monate nach Ausbruch des Krieges zur Welt gekommen und vielleicht hinter den Barrikaden gezeugt worden war.
Der Zug sollte um acht abfahren, und es war etwa zehn nach acht, als es den geplagten, schwitzenden Offizieren gelang, uns auf dem Kasernenhof aufzustellen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die von Fackeln erleuchtete Szene: das Getümmel und die Aufregung, die roten Fahnen, die im Fackellicht flatterten, die Reihen der Milizsoldaten mit ihren Rucksäcken auf dem Rücken und ihren gerollten Decken, die sie wie Patronengurte über der Schulter trugen,- und das Geschrei und das Klappern der Stiefel und Blecheßnäpfe und dann schließlich ein gewaltiges und schließlich erfolgreiches Ruhezischen; und dann ein politischer Kommissar, der unter einem riesigen, rauschenden roten Banner stand und uns eine Ansprache auf katalanisch hielt. Endlich ließ man uns zum Bahnhof marschieren, indem wir die längste Route von etwa fünf oder sechs Kilometern einschlugen, um uns der ganzen Stadt zu zeigen. In der Rambla mußten wir haltmachen, während eine herbeigeholte Kapelle irgendwelche Revolutionslieder spielte. Noch einmal Heldenrummel – Geschrei und Begeisterung, überall rote und rotschwarze Fahnen, freundliche Volksmassen, die sich auf dem Bürgersteig drängten, um uns zu sehen, Frauen, die aus den Fenstern winkten. Wie natürlich schien damals alles; wie entfernt und unwahrscheinlich heute! Der Zug war so dicht mit Männern vollgepackt, daß selbst auf dem Fußboden kaum Platz war, geschweige denn auf den Sitzen. Im letzten Moment lief Williams’ Frau am Bahnsteig entlang und gab uns eine Flasche Wein und ein drittel Meter der knallroten Wurst, die nach Seife schmeckt und Durchfall bewirkt. Der Zug kroch mit der normalen Kriegsgeschwindigkeit von weniger als zwanzig Kilometern in der Stunde aus Katalonien hinaus und auf das Plateau von Aragonien hinauf.
ZWEITES KAPITEL
Barbastro sah öde und zerstört aus, obwohl es weit hinter der Front lag. In Gruppen schlenderten die Milizsoldaten mit ihren schlechten Uniformen die Straßen auf und ab und versuchten, sich wann zu halten. An einer baufälligen Wand fand ich ein Plakat aus dem Vorjahr, das ankündigte, am Soundsovielten würden »sechs stattliche Stiere« in der Arena getötet. Wie verloren sahen die verblichenen Farben aus! Wo waren die stattlichen Stiere und die stattlichen Stierkämpfer jetzt? Es schien, daß es heute selbst in Barcelona kaum noch Stierkämpfe gab,- aus irgendeinem Grund waren die besten Matadore alle Faschisten.
Meine Kompanie wurde auf Lastwagen nach Sietamo geschickt, von dort weiter westlich nach Alcubierre, das gerade hinter der Front gegenüber von Saragossa lag. Dreimal hatte man um Sietamo gekämpft, ehe es im Oktober von den Anarchisten endgültig erobert wurde. Teile der Stadt waren durch Granatfeuer zertrümmert und die meisten Häuser durch die Einschläge der Gewehrkugeln wie von Pockennarben übersät.
Wir befanden uns jetzt etwa vierhundertfünfzig Meter über Meereshöhe. Es war scheußlich kalt, dazu dichter Nebel, der aus dem Nichts heraufwirbelte. Der Lastwagenfahrer verfuhr sich zwischen Sietamo und Alcubierre (das war eines der typischen Merkmale dieses Krieges), und wir irrten stundenlang durch den Nebel. Spät in der Nacht erreichten wir Alcubierre. Jemand führte uns durch schlammigen Morast in einen Maultierstall, wo wir uns in die Spreu eingruben und sofort einschliefen. Spreu ist zum Schlafen nicht schlecht, wenn sie sauber ist, nicht so gut wie Heu, aber besser als Stroh. Erst beim Morgenlicht entdeckte ich, daß die Spreu voller Brotkrusten, zerrissener Zeitungen, Knochen, toter Ratten und schartiger Milchbüchsen war.
Wir waren jetzt nahe an der Front, nahe genug, um den charakteristischen Geruch des Krieges zu riechen – nach meiner Erfahrung ein Gestank von Exkrementen und verfaulenden Lebensmitteln. Alcubierre war nie von der Artillerie beschossen worden und befand sich in einem besseren Zustand als die meisten Dörfer unmittelbar hinter der Front. Aber ich glaube, daß man selbst in Friedenszeiten nicht durch diesen Teil von Spanien reisen konnte, ohne von dem besonders armseligen Elend der aragonischen Dörfer betroffen zu sein. Sie sind wie Festungen gebaut. Eine Menge
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