Mein Katalonien
zivilisierten Lebens – Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boß und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern. Es war einfach ein zeitlich und örtlich begrenzter Abschnitt in einem gewaltigen Spiel, das augenblicklich auf der ganzen Erdoberfäche gespielt wird. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, daß er mit etwas Fremdem und Wertvollem in Berührung gewesen war. Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet. Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, daß der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu »beweisen«, daß Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlicher Staatskapitalismus, in dem das Motiv des Raffens erhalten bleibt. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet. Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese »Mystik« des Sozialismus läßt ihn sogar seine Haut dafür riskieren. Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft. In dieser Gemeinschaft, in der keiner hinter dem Geld herrannte, wo alles knapp war, es aber keine Privilegien und kein Speichellecken mehr gab, fand man vielleicht in groben Umrissen eine Vorschau davon, wie die ersten Schritte des Sozialismus aussehen könnten. Statt mir meine Illusionen zu rauben, fesselte mich dieser Zustand. Die Folge war, daß ich noch viel stärker als vorher wünschte, der Sozialismus möge verwirklicht werden. Teilweise kam das daher, weil ich das Glück gehabt hatte, unter Spaniern zu leben. Mit ihrer angeborenen Anständigkeit und ihrem immer gegenwärtigen anarchistischen Gefühl würden sie selbst die ersten Stadien des Sozialismus erträglicher machen, wenn man ihnen nur eine Chance gäbe.
Natürlich war ich mir damals kaum der Veränderungen bewußt, die sich in meinen Gedanken vollzogen. Wie alle von uns dachte ich hauptsächlich an Langeweile, Hitze, Kälte, Schmutz, Läuse, Entbehrung und die gelegentliche Gefahr. Das ist heute ganz anders. Der Zeitabschnitt, der damals so nutzlos und ereignislos zu sein schien, ist heute von großer Bedeutung für mich. Er unterscheidet sich so sehr von meinem übrigen Leben, daß er schon jetzt im Licht einer zauberhaften Qualität erscheint, die sich normalerweise nur bei Erinnerungen einstellt, die viele Jahre alt sind. Die Ereignisse selbst waren abscheulich, aber heute sind sie schon eine angenehme Erinnerung, bei der meine Gedanken gerne verweilen. Ich wünsche, ich könnte die Atmosphäre jener Zeit schildern. Ich hoffe jedenfalls, daß ich ein wenig davon in den voraufgehenden Kapiteln dieses Buches vermittelt habe. In meiner Erinnerung fällt sie zusammen mit der Winterkälte, den zerlumpten Uniformen der Milizsoldaten, den ovalen spanischen Gesichtern, den Maschinengewehren, die wie Funktasten hämmerten, dem Geruch von Urin und faulendem Brot, dem Bohnenstew, das nach der Konservenbüchse schmeckte und das wir hastig aus schmutzigen Kochgeschirren hinunterschlangen.
Ich sehe die ganze Zeit in merkwürdiger Lebendigkeit vor mir. In meiner Erinnerung erlebe ich noch einmal Ereignisse, die zu unwichtig scheinen, um sie wieder wachzurufen. Ich bin wieder im Unterstand am Monte Pocero, auf dem Kalksteinbrocken, der mein Bett war, und der junge Ramón schnarcht, seine Nase zwischen meine Schulterblätter gepreßt. Ich stolpere den schmutzigen Graben entlang durch den Nebel, der wie kalter Dampf um mich herumwirbelt. Ich hocke auf
Weitere Kostenlose Bücher