Mein Leben in 80 B
diese voll coole Jacke kaufen, die ich in Niebüll gesehen habe, weil weißte, er hat ja schon ’n richtigen Job, und ich bin noch am Überlegen, für was ich mich dann mal so entscheide, und verdien hier und da mal ’n paar Euronen mit Kellnern oder Einhüten bei meiner Schwester oder so, nä. Und dann lügt er rum, er muss unbedingt erst noch zu Ende rauchen und wär außerdem ganz dringend mit Jörgen verabredet – voll, ey.»
Anscheinend strahlte ich wohl so etwas wie mütterliche Wärme aus, wenn ich jetzt als Kummerkastentante herhalten sollte.
«Hast du auch so einen Spast zu Hause?» Diese Frage war nun ausdrücklich an mich gerichtet.
«Ja, also, um ehrlich zu sein, raucht mein Mann gar nicht. Der ist Sportler und achtet sehr auf seine Gesundheit.»
«Hört sich nicht gerade spannend an! Bist du deshalb auch alleine unterwegs?»
«Ähhh, nein, ich habe eine Freundin besucht, die ihren Geburtstag gefeiert hat.»
Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Mädchen sich tatsächlich für meine Freizeitaktivitäten interessierte.
Sie lehnte sich auf dem Sitz, so weit es ging, zurück und nestelte winzige Kopfhörer aus der knallengen Jeans. «Ich bin jedenfalls erst mal durch mit dem Typen, der kann sich mal ’ne schöne Entschuldigung überlegen. Sonst muss er gar nicht mehr angeschissen kommen. Is’ ja nich’ so, dass ich nich’ noch einen im Leerlauf hätte, wenn du verstehst?» Sie zog vielsagend die Brauen hoch, steckte das Kopfhörerkabel in ihr Handy und drückte auf den Tasten herum, ohne noch weiter Notiz von mir zu nehmen.
Zwar wusste ich nicht ganz genau, was sie meinte, vermutete aber, dass ihre Situation der meinen nicht so unähnlich war. Mit dem Unterschied, dass ich nicht einfach nur mit einem Teenie «ging», sondern seit mehr als fünfzehn Jahren verheiratet war. Und optisch nicht allzu viel zu bieten hatte, sondern eher zum Durchschnitt gehörte. Eben total 80 B. Genau wie mein Leben: unaufregend und langweilig.
Aber mit Oke etwas Neues zu beginnen, stand überhaupt nicht zur Debatte. Wenn auch der Gedanke an ein Leben an der Nordsee mit einem jungen, szenigen Liebhaber durchaus seinen Reiz hatte. Hanna und Tom könnten mich besuchen, wann immer ihnen danach war …
Unsinn! Ich musste Restalkohol im Blut haben. Mit derartigen Gedankenspielen würde ich mich keine Sekunde länger beschäftigen. Tom war noch viel zu klein, um ohne mich auszukommen. Sein winziges Herz würde einen Schaden fürs Leben davontragen, wenn ich mich von seinem Vater trennte. Und Hanna wäre zuzutrauen, dass sie sofort und für immer jeglichen Kontakt zu mir abbrach, weil ich ihrem ach so geliebten Vater eine Scheidung zumutete.
Und Toni?
Toni würde wahrscheinlich für einen kurzen Moment traurig sein und dann sein Organisationstalent ausnutzen: Pläne machen fürs Mittagessen, den Fahrdienst für die Kinder und die Aufteilung der Möbel und Bücher.
«Guten Abend, meine Damen und Herren, die Fahrkarten bitte schön.» Der Schaffner, der seinen gut genährten Leib in den Wagen schob, unterbrach meine Gedanken.
Ich würde es einfach so machen wie immer. Abwarten und alles auf mich zukommen lassen.
***
Der Bahnhof in Falkensee war wie ausgestorben. Ich stieg als Einzige aus dem Zug aus. Auf einer Bank vor dem Kiosk gegenüber saß ein Penner in der Kälte im Dämmerschlaf und hielt sich an einer Dose Pils fest, der Kioskbetreiber gähnte und gewährte dabei freien Blick in seinen offenen Mund, als ich an seinem Fenster vorbeiging. Auch auf der Straße vor dem Bahnhof stand niemand, um mich abzuholen. Ich warf einen prüfenden Blick hinüber zu den beleuchteten Parkplätzen, konnte aber auch dort keinen Porsche sehen. Anscheinend hatte die Familie Romagnolo meine Ankunft ganz einfach vergessen. Ich hatte ja nicht unbedingt einen Empfang mit «Herzlich willkommen»-Plakaten und einem Kinderchor erwartet, aber allein mit meinem Gepäck im Schneeregen in der Dunkelheit zu stehen, war nicht gerade meine Traumvorstellung von einer Heimkehr nach vier Tagen Abwesenheit. Zum Glück stand wenigstens ein Wagen am Taxistand, für Falkensee keinesfalls selbstverständlich.
Nachdem ich die Haustür aufgeschlossen hatte, trat ich in ein dunkles und stilles Haus. Auf meine «Hallo»- und «Ich bin wieder da»-Rufe erntete ich keine Reaktion. Es war niemand zu Hause. In der Küche lag ein angebissenes Brot auf einem Teller, und der Kaffeevollautomat war noch an. Allzu lange konnte meine Familie also noch nicht
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