Mein Leben in 80 B
Ausrufezeichen.
«Du warst auch angezogen. Zumindest an den entscheidenden Stellen.» Ich erhob mich vom Hocker und zog den Reißverschluss an meinem Mantel zu. «Es tut mir leid. Ich muss jetzt zum Zug.»
Oke machte ein Gesicht wie ein Golden Retriever, der in den Regen hinaussoll. «Ilse. Ich erwarte doch gar nicht, dass du sofort bei mir einziehst. Aber ich spüre, dass ich dir nicht gleichgültig bin. Vielleicht könnten wir uns einfach mal in Hamburg treffen, oder …»
Im Grunde war es schon ein Kompliment, dass Oke mehr als einen Satz am Stück an mich richtete – das waren ja fast schon Reden. Ich nahm meine Tasche und die Koffer und stellte mich vor Oke auf.
«Lass mich in Ruhe über alles nachdenken. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich mich melden werde. Aber jetzt muss ich wirklich gehen.»
Ich gab ihm links und rechts einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und lief dann, ohne mich noch einmal umzusehen, in Richtung meines Bahnsteigs.
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12. Kapitel
Der Zug war rappelvoll, aber gleich zu Beginn des Wagens fand ich noch einen Platz, hinter dem ich auch meine Koffer deponieren konnte. Den Mantel hängte ich neben den Sitz, um mich darin einzukuscheln, falls es kühl wurde. Bevor ich es mir auf dem Fensterplatz bequem machte, wühlte ich einen Krimi und den Rest der Schokolade aus der Handtasche und suchte nach meinem kleinen tragbaren CD -Spieler. Dabei fiel mir eine CD in die Hände, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Das Cover war selbst gestaltet und zeigte eine weiße Kochmütze mit grinsendem Gesicht auf rotem Grund. Der Titel lautete: «Mit Liebe gekocht». Ich musste nicht lange raten, wer mir dieses kleine Geschenk in die Tasche geschmuggelt hatte. Von wegen «einen Gastkoch am Bahnhof abholen». Wie es aussah, hatte Oke ganz genau gewusst, wo er mich finden konnte. Zu den Klängen der
White Lies
starrte ich aus dem Fenster in die dunkler werdende Landschaft und fühlte, wie der Schneeregen gegen die kühle Scheibe klatschte.
Let’s grow old together
And die at the same time
Let’s grow old together
And die at the same time.
Ich sah Oke vor mir, wie er leidenschaftlich mitsang, seine blauen Augen sich in meine versenkten und seine weichen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Das schlechte Gewissen plagte mich. Was sollte ich Toni erzählen, was lieber nicht? War es wirklich am besten, einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als wäre nichts gewesen? Sollte ich das Wochenende auf Sylt als ein Freundinnen-Wochenende abhaken und wieder die liebevolle Ehefrau und Mutter sein, die sich mit Schlüpper-Verkäufen ein Taschengeld dazuverdiente?
Mir war klar, dass ich das nicht konnte. Es war ein schönes Gefühl, so umschwärmt zu werden. Ich fühlte mich wie von innen gewärmt, während ich der Musik lauschte, und musste lachen, als ich feststellte, dass Oke ausschließlich den
White-Lies
-Song immer wieder auf die CD gebrannt hatte.
Irgendwie sollte es doch hinzukriegen sein, diese Gefühle zu bewahren, etwas daraus zu machen und trotzdem niemandem weh zu tun. So gut gelaunt und beschwingt hatte ich mich ohne Alkohol das letzte Mal gefühlt, als … Ich konnte mich nicht erinnern.
Wenn bloß Sylvia, diese Zicke, nicht aufgetaucht wäre! Die würde garantiert quatschen, bei der Gymnastikgruppe und der nächsten Tupperparty und am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, wo sich die bekannte Truppe aus sogenannten Freundinnen plus Ehemännern alljährlich an den Freitag- und Samstagabenden einfand. Allein deswegen musste ich mit Toni über das Wochenende sprechen. Auch wenn sie eigentlich nichts ausplaudern konnte – ich würde bei jeder Anspielung garantiert rot anlaufen und schon deshalb verdächtig wirken.
Inzwischen hatte der Zug den Hindenburgdamm verlassen und hielt in Klanxbüll auf dem Festland. Ein junges Mädchen stieg ein, ganz in Schwarz gekleidet und mit gepiercter Nase. Sollte Hanna sich je dermaßen verunstalten, würde ich sie an diesem Ring quer durch ganz Brandenburg ziehen.
Das Mädchen drückte sein Handy ans Ohr und ließ sich schwer auf den freien Sitz neben mir fallen.
«Ey, weißt du, du hast gesagt, du willst lieber eine rauchen, statt mit mir nach Niebüll zum Shoppen zu fahren. Wir sehen uns nächste Woche. Tschau.»
Ja, so konnte man das natürlich auch machen. Kurz, knackig, konsequent. Aber das war noch nie meine Art gewesen.
«Der Typ spinnt doch. Sagt mir erst, er würde mir
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