Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Schau! Wohl liegt’s im Ort?» – das ist pures Singspiel, reinster Lortzing. Dazu schreibt Wagner in der Partitur permanent Forte, unmöglich! Wahrscheinlich haben die Orchester damals einfach nicht so laut gespielt, das ist meine etwas schlichte Erklärung. Heute muss man an Stellen wie diesen zwischen Bühne und Graben gut moderieren.
Und man darf das Profil des Gesamtgebirges nicht aus den Augen verlieren: Der erste Akt ist höllisch schwer, rein technisch und manuell (und wird auch am ausführlichsten probiert), der zweite ist das dramatische Lot, das Zentrum, ein delikates Meisterwerk, und der dritte ist so lang, fast zweieinhalb Stunden, dass er einem körperlich den Rest gibt. Das Einzige, was einen hier rettet und trägt, ist ruhige Kapellmeisterei. Deshalb sagen mir persönlich auch die Aufnahmen der großen alten Kapellmeister am ehesten zu: Hermann Abendroth und Wilhelm Furtwängler im Kriegssommer 1943 in Bayreuth, Rudolf Kempe 1951 in Dresden, Hans Knappertsbusch 1955 in München, Fritz Reiner im selben Jahr in Wien sowie Karajans alerte Studioaufnahme wiederum mit den Dresdnern von 1970. Jüngeres leidet entweder wie Eugen Jochums Einspielung mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin von 1976 unter einer unnötig aufgemotzten Sängerbesetzung (Plácido Domingo als Stolzing) oder verfällt wie Wolfgang Sawallisch 1993 mit dem Bayerischen Staatsorchester in ein doch allzu behäbiges Musizieren. Der «Meistersinger»-Dirigent muss beides können, beides wollen, das ist die Schwierigkeit: Humor haben, schnellen Witz und keine Angst vor Melancholie und Pathos, streng sein im Kontrapunktischen und geschmeidig in den Temporelationen.
Legendär ist auch der Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1937 unter Arturo Toscanini. Das federt, das hat Luft, gar keine Frage, und wie Toscanini den Wagnerschen Konversationston trifft, wie natürlich und präzise seine Sänger artikulieren (Hans Hermann Nissen als Sachs und Maria Reining als Eva), ist großartig. Allerdings fehlt mir persönlich ein bisschen das atmosphärische Futter zwischen den Noten, der Dunst (was auch der extrem schlechten aufnahmetechnischen Qualität geschuldet sein kann). Bis in die Sechzigerjahre hinein wurden die «Meistersinger»-Partien gerne mit eher schweren Stimmen besetzt: Auf Nissen als Sachs folgten Paul Schöffler (bei Abendroth, Knappertsbusch und Reiner), Jaro Prohaska (bei Furtwängler), Otto Edelmann (bei Karajan 1951 in Bayreuth) und Ferdinand Frantz (zweimal bei Kempe). 1970 unternimmt Herbert von Karajan den Versuch, der kammermusikalischen Durchsichtigkeit auch in der Sängerbesetzung Rechnung zu tragen, mit konsequent lyrischen Stimmen (Theo Adam ist Sachs, René Kollo ist Stolzing, Peter Schreier der wohl beste David der Schallplattengeschichte). Diese Ästhetik hat Schule gemacht, zu Recht, auch in neueren Einspielungen unter Georg Solti oder Daniel Barenboim. Insgesamt aber sind die Besetzungsnöte dadurch kaum kleiner geworden. Heute einen Sachs zu finden, der die richtige stimmliche Statur hat, die Partie rhetorisch durchdringt und innerlich gelassen bleibt, ist schwer. Gleiches gilt für Beckmesser (den Cosima Wagner 1888 mit einem Schauspieler besetzte!) und Stolzing.
Die «Meistersinger» halten auch uns Musikern den Spiegel vor: Was hier gelingt, gelingt im ganzen Wagner. Im frühen wie im späten, im jugendlich-unerfahrenen wie im meisterlich-reifen.
9
Geld, Macht oder Liebe?
Ein Weltengemälde in Sonnenuntergangsfarben:
«Der Ring des Nibelungen»
Allein mit dem «Ring», Wagners «Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend», habe ich von 2006 bis 2010 rund 300 Stunden im Bayreuther Orchestergraben zugebracht (nur Generalproben und Vorstellungen gerechnet). Jedes Jahr freute ich mich neu auf diese Aufgabe, und ich bin auch keineswegs der Meinung, vollständig damit fertig geworden zu sein. Der «Ring» ist musikalisch so vielgestaltig, dass sich Neugier und Entdeckerlust nie erschöpfen. Im «Ring» fühlt sich der Dirigent wie ein Akku, der permanent wieder aufgeladen wird. Das machen die gegensätzlichen Welten, durch die man sich 15 Stunden lang bewegt, und die vier höchst unterschiedlichen Temperamente der Tetralogie. Das Orchester ist zwar monströs besetzt, mit Kontrafagott, Basstuba und acht Hörnern – doch wie differenziert und feingliedrig handhabt Wagner diesen Apparat! Das «Rheingold» hat in seinem Orchester-Parlando noch sehr viel von Mozart, viel Mendelssohn, bei der
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