Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
Vom Netzwerk:
dichten, singen, um wieder Klarheit über das Leben zu gewinnen. «Melancholisch-grundheiter» nennt Ernst Bloch diese Stimmung. Und wie findet Wagner aus solchem Entrücktsein wieder heraus? Erst kommt Stolzing mit seinem Lied, seiner «Morgentraum-Deutweise», dann das Quintett – und dann der grandiose Übergang zur Beckmesser-Pantomine, jener Szene, in der der Stadtschreiber sich der fremden Noten bemächtigt. Ächzend und humpelnd kündigt er sich an, als habe Wagner jeden seiner blauen Flecke einzeln komponiert, Fetzen des Prügelmotivs kabbeln sich mit seinem verunglückten Ständchen aus dem zweiten Akt, Sachsens Schusterlied weht vorüber, der Schatten Stolzings geistert durch den Raum: Das Leben ist ein unbarmherziges Pasticcio, ist Parodie und Travestie und Wahrheit zugleich. Und die Musik geriert sich so fortschrittlich, so hellsichtig wie nie. Aber das ist bei Wagner ja oft so: dass die Bösen und Schwierigen, die Ortruds, Beckmessers und Klingsors die wagemutigste Musik von allen haben.
    Solches Schichten von Realitäten findet sich auch auf der Festwiese. Standarten kreisen, «streck! streck! streck!», «Meck! Meck! Meck!», «Beck! Beck! Beck!», skandieren die Handwerker, es walzert und ländlert und trommelt und trompetet. Ein 360-Grad-Tableau in gleißendem C-Dur, an dessen Kulminationspunkten man in der Tat vergebens nach Brüchen oder Zweifeln sucht. Wagner hat hier keine Widerhaken eingebaut, und das öffnete einer problematischen Rezeption Tür und Tor. Rasch galten die «Meistersinger» als Parade-Oper des «Dritten Reichs». Berüchtigt waren vor allem die Aufführungen 1933 in Bayreuth in Anwesenheit von Hitler und Goebbels und 1935 in Nürnberg, als «Festvorstellung anlässlich des Reichsparteitages der Freiheit». Wagners Butzenscheibenspiel als nationalistisches Menetekel?
    Man hat mich mehrfach gefragt, wie ich in Nürnberg oder in Bayreuth die «Meistersinger» dirigieren könne, und meine Antwort lautete stets: sehr gut! Erstens ist die «Meistersinger»-Rezeption nicht in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts stehengeblieben, und zweitens kann es nicht die Aufgabe eines Künstlers sein, sich den Blick auf ein Werk von dessen Rezeptionsgeschichte diktieren und verstellen zu lassen. Man sollte wissen, wer sich der Kunst wann wie bemächtigt hat, keine Frage, aber man muss doch auch zu seiner eigenen Erfahrung und Rezeption stehen. Und die ist in meinem Fall naturgemäß eine ganz andere als 1933 oder 1935.
    Apropos Bayreuth: Das Festspielhaus ist für die «Meistersinger» einmal mehr nicht der günstigste Aufführungsort. Die durchgestufte Hierarchie der Instrumente im Graben taugt für den brokatenen Parlando-Stil dieser Partitur wirklich nur bedingt. Es gibt Stellen, die bleiben auf dem Grünen Hügel absolut unbefriedigend, die Prügelszene zum Beispiel wird niemals richtig transparent sein, einfach weil die vielen kleinen Noten unterm Deckel so gerne an Prägnanz verlieren. Gleichzeitig aber ist Bayreuth der Ort, an dem einem die Leichtigkeit und Poesie der Partitur am besten gelingen können. Die Sommernachtstraum-Atmosphäre des zweiten Akts, die Schusterstube im dritten, nirgends klingt das so flirrend, so elfenhaft, so fliederholunderduftig wie im Festspielhaus. Und das versöhnt.
    Aufnahmen
    Mit viereinhalb Stunden Spieldauer sind die «Meistersinger» alles andere als eine kleine komische Oper. Der Dirigent muss hier sehr gut disponieren, und es lauern gleich mehrere Gefahren. Erstens: Man ist jung und bildet sich ein, auswendig dirigieren zu müssen – doch wie leicht gerät man dabei ins Schwimmen! Beim Beckmesser-Ständchen im zweiten Akt mit seinen vielen Unterbrechungen und Seitenhieben, vor allem bei der Beckmesser-Pantomime im dritten Akt kann mordsmäßig viel schief gehen. Lieber sollte man sich darauf konzentrieren, das richtige Tempo für die Pantomime zu finden. Zweitens: Man dirigiert das Vorspiel wie im Konzert, als Zugabe – schon hat man zu viel Kraft verpulvert. Und drittens: Man verwechselt die feinnervige, mendelssohnöse Intensität des Vorspiels mit krachlederner Lautstärke und Bollerigkeit – prompt hat man den ganzen ersten Akt Mühe, das Orchester wieder leise zu kriegen. Wie nötig das ist, zeigt der Anfang, die erste Szene nach dem Choral. Die schnellen Wortwechsel zwischen Stolzing und Eva, Eva und Magdalene müssen flüssig sein und sind schon deshalb selten präzise. «Verweilt! – Ein Wort! Ein einzig Wort!», «Mein Brusttuch!

Weitere Kostenlose Bücher