Mein Leben mit Wagner (German Edition)
mehr und mehr vom Wort, ja überhaupt vom darzustellenden Augenblick emanzipieren.
Im Juli 1852 ist das Libretto der «Walküre» fertig, im November das des «Rheingolds». Anschließend macht Wagner sich an die Revision der beiden «Siegfried»-Dramen. Ende Mai 1854 schließt er die «Rheingold»-Partitur ab, Ende März 1856 die der «Walküre» – und dann, Ende Juni 1857, auf dem Höhepunkt der Wesendonck-Affäre, legt er mitten im «Siegfried» die Arbeit nieder. Akuter Geldmangel, die vergebliche Suche nach einem Verleger, die Einsicht, dass das Mammutwerk an herkömmlichen Opernhäusern unaufführbar sein würde, die ungeahnte Wucht des eigenen Liebeswollens: Es gibt etliche gute Gründe für diese Unterbrechung. Ich würde noch einen musikalischen hinzufügen. Als Siegfried sich nämlich in der zweiten Szene des zweiten Akts «unter eine große Linde» setzt und das Fürchten lernen soll, weiß Wagner nicht recht weiter. Die Musik, um es unkonventionell auszudrücken, bohrt in der Nase, tändelt so herum. Wagner scheint zu spüren, dass ihm für die Verbindung von Göttern und Menschen im dritten Akt die Mittel fehlen, er hat keine rechte Vorstellung davon, wie sich die Gibichungen in der «Götterdämmerung» ins Netz- und Räderwerk seines musikalischen Kosmos fügen sollen. Also geht er auf Abstand und holt sich ästhetischen Rat, bei den Menschen des «Tristan» und der «Meistersinger».
Uraufführung des «Rings» im August 1876 in Bayreuth: Szenischer Bühnenbildentwurf für den zweiten Akt der «Walküre» von Josef Hoffmann
Im Juli 1865, unmittelbar nach der erfolgreichen Münchner Uraufführung des «Tristan», nimmt er die Arbeit am «Siegfried» schließlich wieder auf. Die vollständige Partitur lässt trotzdem bis Februar 1871 auf sich warten. Ein Zerwürfnis mit Ludwig II. bahnt sich an, als dieser 1869/70 in München die Uraufführungen des «Rheingolds» und der «Walküre» erzwingt. Jeder Widerstand ist zwecklos. Um den Monarchen an weiteren Eigenmächtigkeiten zu hindern, lässt Wagner sich nun Zeit und Ludwig über seine Fortschritte im Unklaren. Die ersten beiden Akte der «Götterdämmerung» entstehen ebenfalls nicht vor 1871, der dritte folgt im Frühjahr 1872, und am 21. November 1874 gegen Mittag schließlich vermeldet ein «angestrengter» und «müder» Wagner in Wahnfried den Abschluss des Ganzen. Diesen «dreifach heiligen, denkwürdigen Tag» allerdings verbringt das Ehepaar im Streit. Cosima, nicht ahnend, dass das Werk vollbracht ist, will ihren Gatten mit einem Brief Franz Liszts aufheitern – und muss sich für den Rest des Tages anhören, dass alle Anteilnahme an ihm, Richard, wie «weggewischt» sei, sobald ihr Vater nur einen Mucks mache. Die Nerven im Hause Wagner liegen blank. «Sollte der Genius so hoch seinen Flug vollenden, was durfte das arme Weib?», weint Cosima in ihr Tagebuch und gibt sich die einzig praktikable Antwort gleich selbst: «In Liebe und Begeisterung leiden.»
Wie es zur Bayreuther Uraufführung des gesamten «Rings» vom 13. bis 17. August 1876 kam, wurde hier bereits geschildert. Szenisch und technisch mag sie ein Desaster sein, das Echo ist dennoch überwältigend. Berühmt und bezeichnend sind die Worte, die Wagner seiner Trauzeugin, der freidenkerischen Malwida von Meysenbug, zugeraunt haben soll: «Sehen Sie nicht zu viel hin! Hören Sie zu!» Zum Gesamtkunstwerk ist es demnach noch ein weiter Weg. Drei «Ring»-Zyklen werden im ersten Jahr absolviert, dann sind die Kassen leer. Die nächsten Bayreuther Festspiele finden erst 1882 statt, mit der Uraufführung des «Parsifal», und den nächsten «Ring» gibt es erst 1896 wieder, nach Wagners Tod, dafür aber in einer «Modell»-Inszenierung Cosimas.
«Vorabend: Das Rheingold»
Das «Rheingold» ist riskant. Man darf nie vergessen, dass es sich um die Ouvertüre, das Vorspiel, den «Vorabend» des «Rings» handelt. Wagner zeigt hier zwar alle Folterwerkzeuge, die Zangen, Zwingen und Daumenschrauben, und drückt damit auch schon mal zu – richtig angelegt aber werden sie noch nicht. Bei Alberichs Flüchen vielleicht ein bisschen, ja, aber auch das ist nur ein Vorgeschmack. Wer sich dies bewusst macht, läuft andererseits Gefahr, die Musik zu leicht zu nehmen, sie bloß dahinplätschern zu lassen. Auch das wäre ein Fehler. Die langen Parlando-Stellen, von denen das Stück lebt, müssen so durchsichtig und flüssig wie möglich dirigiert werden – damit das Publikum die raue,
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