Mein Leben mit Wagner (German Edition)
widersprüchliche Weise, jedenfalls auf den ersten Blick. Aus der Figurenkonstellation grüßen die italienische Opera buffa und die deutsche Spieloper, die drei großen Finale sind eine Reminiszenz an Meyerbeers Grand Opéra , und überhaupt soll das Ganze, glaubt man Wagner, wie «angewandter Bach» klingen, so «alt» und «doch so neu». Damit das gelingt, verzichtet Wagner hier zum ersten und letzten Mal auf alle Götter, alle extraterrestrischen Helden und mythischen Hintergedanken. Das Personal der «Meistersinger» sind Menschen aus Fleisch und Blut, ganz bürgerlich und gesittet. Und die Mischung macht’s. Die Mischung aus fiktiven Realitäten und spitzfindigen Traditionen, aus Echtem und Unechtem, aus der Butzenscheibe und ihrer Schablone – sie krönt diese Partitur als unschlagbar intelligent. Insofern kann die Liste der Opernhäuser, die mit den «Meistersingern» eröffnet oder wiedereröffnet wurden, gar nicht lang genug sein: das Münchner Prinzregententheater 1901, die Nürnberger Oper 1905, Freiburg 1949, Neu-Bayreuth 1951, die Berliner Staatsoper 1955, Leipzig 1960, das Münchner Nationaltheater 1963, das Essener Aalto-Theater 1988 und hoffentlich noch viele mehr.
Besonders deutlich kommt Wagners Kunstverständnis im Fliedermonolog des Hans Sachs im zweiten Akt zum Ausdruck: «Ich fühl’s – und kann’s nicht verstehn; – /kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen; /und fass’ ich es ganz, – kann ich’s nicht messen.» Kunst ist «unermesslich», heißt das, und das kann sie nur sein, wenn sie sich ihrer Wirkung bewusst ist und von Herzen kommt. Aus dieser Spannung, diesem Kräftemessen speist sich meiner Ansicht nach das Geheimnis des ganzen Wagner. Die «Meistersinger» sind die Oper, in der er das zum Thema macht. Hans Sachs ist dabei sein «Selbstporträt als Klassiker», wie Carl Dahlhaus sagt. Eine imponierende Figur, Künstler und Handwerker, Schuhmacher und Dichter in einer Person – die Parallelen liegen wohl auf der Hand.
Was aber bedeutet das frühneuzeitliche Ambiente musikalisch? Das Vorspiel könnte mit seinem dreifachen Kontrapunkt glatt als Barock-Ouvertüre durchgehen, die Prügelszene ist satztechnisch ein Doppelfugato, die Polyphonie spielt eine große Rolle – kurzum: ganz schön archaisch, ganz schön archaisierend. Hört her, sagt Wagner, ich kenne mich aus, ich weiß, in welcher Tradition ich stehe, und ich zeige euch mal, was ich alles kann. Mich erinnern die «Meistersinger» immer an Richard Strauss’ «Rosenkavalier»: weil in beiden Fällen hinter dem vermeintlich Einfachen die größte Raffinesse steckt und weil das «Naive» nur aus einem «sentimentalischen» Geist heraus gestaltet werden kann. Wie Strauss den Walzer in die Maria-Theresia-Zeit vorverlegt, so trägt die «Meistersinger»-Welt den Stempel des 19. Jahrhunderts. Flieder zum Beispiel hat es in Nürnberg im 16. Jahrhundert gar nicht gegeben, höchstens Holunder, man müsste also vielmehr vom Holundermonolog des Sachs sprechen! Und wieso soll eigentlich ausgerechnet ein Adeliger, Walther von Stolzing, den Meistern die wahre Kunst beibringen? Das passt weder zum patriotischen Geist der Jahre vor 1871 noch zu Wagners eigener grundrevolutionärer Überzeugung. Und irgendwie passt es dann doch. Das Leben ist nun einmal nicht frei von Widersprüchen.
«Die Kunst, um es zu sein, Kunst, müsse sich als Kunst verbergen und als Natur erscheinen», sagt Carl Dahlhaus. Der Satz trifft den Nagel auf den Kopf. Keinen einzigen Takt lang merkt man den «Meistersingern» ihre Machart und Montage an, alles fließt scheinbar natürlich ineinander, die 45 (!) Leitmotive inklusive. Es klingt verrückt, aber diese Partitur ist zum Mitschreiben logisch. Deshalb bin ich bis heute der Überzeugung, dass man als Dirigent kein «Konzept» für die «Meistersinger» braucht. Man muss sich ihrem Humor, ihrem Witz, ihren Winkelzügen nur selbstbewusst stellen.
Nehmen wir nur einmal das Vorspiel zum dritten Akt mit seiner düsteren, kerkerhaft ins Nichts verschwindenden Cello-Kantilene. Was ist das für eine Musik? Die Kehrseite von allem Festwiesenprunk, der ja erst noch bevorsteht? Der Seelenkeller? Kollektives Kopfweh nach der nächtlichen Prügelei? «Biederphilosophisch», sagt Thomas Mann dazu. Denn der Beginn des dritten Aktes ist Hans Sachsens Welt, viel mehr als Schusterstube und Holunderduft: Die Reflexion ist des Meisters eigentliches Geschäft, sich Rechenschaft ablegen, spintisieren,
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