Mein Leben mit Wagner (German Edition)
in Musik und Realität, in den Dresdner Hofkapellmeister, zu dem Wagner es brachte, und den handwerklichen Stümper, als den er sich selbst gerne bezichtigte, und in vieles mehr.
Als Dirigent sollte man das sicher alles wissen – aber man darf es auch wieder vergessen. Je älter ich werde, desto weniger interessieren mich die Biographien von Komponisten. Ich habe ja die Partituren, und da steht alles drin. Auch das Ambivalente, das Zwiespältige, gerade das.
Wie ich mir den Menschen Wagner vorstelle? Herrschsüchtig, jähzornig, albern, sehr sendungsbewusst. Demagogisch, getrieben, verrückt. Hans Neuenfels hat einmal geschrieben, als er meinte, ihm in Bayreuth begegnet zu sein (fiktiv natürlich), er habe sich vor dem Angesicht des Meisters «wie eine Motte aufgespießt» gefühlt. Das kann ich gut nachvollziehen: Blicke wie Dolche! Augen, die alles besser wissen! Andererseits: Wagner wusste ja tatsächlich vieles besser, und seine Sehnsucht nach einer Totalität in der Kunst, nach einer Kunst, die alles bedeutet, ist mir ziemlich vertraut. Vielleicht sind wir uns am Ende gar nicht so unähnlich in unserer Leidenschaft. Allerdings fällt es mir persönlich nicht gar so leicht, die Bodenhaftung zu verlieren. Wagner dagegen phantasierte sich gern ein inneres Neuschwanstein herbei. Im «Tristan»-Jahr 1865, nach seiner ersten Begegnung mit Ludwig II. in München, notiert er: «Ich kann und muss nur in einer Art von Wolke leben. Wie ich einzig Kunstmensch bin, kann ich auch nur ein künstliches Leben führen. Dazu gehört: fast gar nicht mehr mit den Leuten verkehren; gar nicht mehr sprechen, oder nur im Scherz, nie ernsthaft, denn das wird immer gleich leidenvoll und unnütz. ‹…› Ich richte mir dann einen vollständigen Hof ein. ‹…› Unmittelbar bekümmere ich mich um nichts mehr. ‹…› und dann geht es wie zu Versailles, bei Louis XIV her: mit steifster Etikette, wie auf Fäden gezogen.»
Richard Wagner um 1871, fotografiert von Franz Hanfstaengl
Die Realität sah wohl anders aus. Wagner war bodenständig und praktisch und dabei ein «wunderlicher Hitzkopf» – das liegt bis heute in der Familie. Er schwebte nicht genieumflort auf Wolken (sonst hätte er davon nicht träumen müssen), sondern kroch unten auf der Bayreuther Bretterbühne herum und tobte, weil nichts so war, wie er es haben wollte. «Der Architekt des Festspielhauses, dieser Brückwald aus Leipzig, ist eine Null! Das Holz knarzt bei jedem Schritt! Wo bleibt das Halsstück meines in London, in L ONDON gefertigten Drachen? Warum funktioniert die Maschinerie der Rheintöchter schon wieder nicht? Und wer zum Teufel hat diese geschmacklosen Provinz-Indianer-Kostüme bestellt?» Letztlich sind Wagners Kämpfe von unserem Theateralltag gar nicht so weit entfernt. Zwar trägt Siegfried auf der Bühne heute kein Bärenfell mehr, aber die Rheintöchter, so die Regie sie nicht banalisiert, machen immer noch gerne Probleme.
Auch deswegen muss ich als Dirigent nicht alles über Wagners Leben wissen. Aber was ich ihn fragen würde, wenn er unverhofft bei mir in der Tür stünde: Lieber Wagner, wie kann ein Mann von Ihrem Format und Raffinement in seinem Urteil über Felix Mendelssohn Bartholdy so daneben liegen? Und noch etwas: Warum schreiben Sie, der begnadete Praktiker, in der ersten Szene der «Meistersinger» so viel Forte im Orchester? Wer soll dazu jemals singen können?
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«Wagalaweia» und «Hojotoho!»:
Eine erste Annäherung an Wagners Musikdrama
Wagner war, was man den französischen Impressionisten gemeinhin vorwirft zu sein: ein unverschämter Parfümeur. Ein Rattenfänger, der ultimative Meister der Hexenküche. Vieles in seiner Musik wirkt regelrecht hingeworfen – und ist doch gnadenlos genau berechnet. Wagner saß vor seinem Notenpapier wie in einem Labor, überall zischte und brodelte und qualmte es, und keiner wusste, ob seine Komponierstube nicht im nächsten Augenblick in die Luft fliegen würde. Hier ein wenig mehr Strychnin, da etwas Orangenaroma, damit die böse Bittermandel nicht so durchkommt, und schließlich noch ein Schuss Bergamotte-Öl, das duftet so schön – fertig ist das Gift, ist die Droge. Fertig ist der dritte Akt des «Tristan» in seiner ganzen manisch-depressiven Radikalität; und fertig ist der zweite Akt «Parsifal» mit seinen wilden, ungebärdigen Klangmixturen.
Ausführende Musiker sind von Haus aus Praktiker, das ist ihre Rettung und bisweilen ihr Fluch, und wenn sie sich Wagner und
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