Mein Leben mit Wagner (German Edition)
mich immer: Mit damaligen Augen lesen und mit heutigen Ohren hören. Verstehen, was geschrieben steht, es in Relation setzen zu den vorhandenen Möglichkeiten – und die Wirkung auf heutige Umstände übertragen. Ich persönlich fände es schön, wenn man die Unterschiede zwischen einer frühen und einer späten Wagner-Oper auch in der Orchesterbesetzung hörte. Selbst dieser große Meister ist nicht als Meister vom Himmel gefallen.
Wort und Ton
Richard Wagner war von Anfang an sein eigener Librettist. Das mag pragmatische Gründe haben – sein bewegtes Leben hätte die beschauliche Zusammenarbeit mit einem Theaterdichter wohl kaum zugelassen. Vor allem aber sah seine Utopie vom «Gesamtkunstwerk» nie etwas anderes vor. Wagners Ziel war es, alle bühnenkünstlerischen Disziplinen miteinander zu synchronisieren: Text, Musik, Tanz, Dekoration und Licht. Der Gedanke mag schon zu Zeiten seiner zentralen Schriften («Die Kunst und die Revolution», 1849, «Das Kunstwerk der Zukunft», 1850, «Oper und Drama», 1851) nicht ganz neu gewesen sein, man kannte ihn aus der Antike, aus den Florentiner Urgründen der Oper im späten 16. Jahrhundert und auch aus der Romantik. Niemand aber hat ihn so konsequent und umfassend und größenwahnsinnig formuliert wie Richard Wagner. Indem er die Architektur, die künstlerischen Produktionsbedingungen und das Rezeptionsverhalten des Publikums mit einschließt, verfasst er nichts weniger als eine Gesellschaftstheorie. Sie lautet: «Das Drama ist nur als vollster Ausdruck eines gemeinschaftlichen künstlerischen Mitteilungsverlangens denkbar; dieses Verlangen will sich aber wiederum nur an eine gemeinschaftliche Teilnahme kundgeben.» Mit anderen Worten: Im Opernpublikum konstituiert sich die Öffentlichkeit der Zukunft. «Eine Bevölkerung ihren gemeinen Tagesinteressen zu entreißen, um sie zur Andacht und zum Erfassen des Höchsten und Innigsten, was der menschliche Geist faßt, zu stimmen» – das ist die Aufgabe der Kunst. Ausgelebt werden kann sie seit 1876 vorzugsweise in Bayreuth.
Dabei ist das Was genauso wichtig wie das Wie, das Wie so wichtig wie das Was. Für Wagner ist der Text, die Dichtung der «zeugende Samen» (also männlich) und die Musik das «gebärende Element» (also weiblich). Die Musik sei der Atem, heißt es an anderer Stelle, der die Sprache «zur Selbstbewegung beseele». Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, und entsprechend gestaltet sich bei Wagner das Verhältnis von Sprache und Klang: als ein symbiotisches, oft lautmalerisches. Mal treibt der Text bloß Konversation, mal beschleunigt er den Fortgang der Handlung, mal dient er als Material, als Lautfüllstoff für die Musik. Verse wie Tristans und Isoldes «gib Vergessen /daß ich lebe; /nimm mich auf /in deinen Schoß, /löse von /der Welt mich los!» beispielsweise wären vielleicht auch durch etwas anderes zu ersetzen, sie transportieren mehr Liebeslallen als wortwörtlichen Sinn. Wichtig ist hier, dass die Sänger erstens Legato singen, zweitens leise und drittens langsam – «sehr weich», schreibt Wagner in der Partitur.
Ich könnte hier massenweise Stellen anführen, über die man sich lustig machen kann, Wagner gilt in dieser Beziehung ja als ausgesprochen dankbar. Das Sächsische zum Beispiel scheint eine Rolle in seinen Texten zu spielen («mit Bappe back’ ich kein Schwert!» statt «mit Pappe» im «Siegfried»). Und dann ist da die mächtige Bastion des notgedrungen Text-Unverständlichen (woran die Oper allerdings generell krankt, nicht nur bei Wagner). Ich denke nicht, dass er das im Einzelnen so beabsichtigt oder auch nur in Kauf genommen hat, vielmehr ist er an menschliche, sängerische, artikulatorische Grenzen gestoßen, über die er noch einmal hätte nachdenken müssen. Er kann nicht geglaubt haben, dass die Tristan-Klagen im dritten Akt verständlich sind – dafür muss sich der Tenor viel zu sehr anstrengen, denn das Orchester spielt permanent Forte und Fortissimo. Und er kann nicht geglaubt haben, dass Isoldes «Entartet Geschlecht, /unwert der Ahnen! /Wohin, Mutter, /vergabst du die Macht, /über Meer und Sturm zu gebieten?» gleich in der ersten Szene des ersten Aktes je verständlich sein würde – warum sonst schrieb er in die Regieanweisung «wild vor sich hin»? Ist hier vielleicht vor allem der Gestus, der Furor, das Aufgewühltsein an sich gemeint?
Richard Wagner gehört zu den Wiederentdeckern des Stabreims im 19. Jahrhundert. Diese
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