Mein Leben mit Wagner (German Edition)
umzusetzen versuchte. Seit er sich mit dem Gedanken an einen «Ring des Nibelungen» beschäftigte, seit den 1850er Jahren also, war er auf der Suche nach diesem Instrument. Der berühmte belgische Bläserspezialist Adolphe Sax (dem wir das Saxophon verdanken) kam zu wenig befriedigenden Ergebnissen, und erst mit Hilfe der Mainzer Firma Alexander gelang Anfang der 1860er Jahre die Entwicklung der gewünschten Kreuzung. In den späten Symphonien des Wagnerianers Anton Bruckner findet die Wagner-Tuba ebenso Verwendung wie in Richard Strauss’ «Frau ohne Schatten» oder in dessen «Alpensymphonie».
Und noch eine Besonderheit kennt das Wagner-Orchester: die sogenannte Beckmesser-Harfe in den «Meistersingern von Nürnberg». Auch hier handelt es sich um eine Wagnersche Eigenkreation: eine kleine, mit 20 Stahlsaiten bespannte und mit zwei Pedalen versehene Harfe, die jene Laute imitiert, mit der sich der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser im zweiten Akt als Evas Zukünftiger profilieren möchte. Zum Vergleich: Eine Konzertharfe hat 47 Saiten, zumeist aus Darm, sieben Pedale und einen viel geschmeidigeren Klang. Warum Wagner für die Beckmesserei nicht gleich eine echte Laute genommen hat? Weil diese sich gegen das opulente «Meistersinger»-Orchester (vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Basstuba und eine große Bühnenmusik) kaum durchsetzen würde. Außerdem geht es hier ums Prinzip der Parodie, um eine gewisse Künstlichkeit also. Kompositorisch mag Beckmesser die progressivste, unkonventionellste Musik der ganzen Oper abbekommen haben – eine echte Chance, Evas Herz zu gewinnen, hat er nicht, und genau das sagt die Harfe.
Als Laie stellt man sich wahrscheinlich vor, dass es viel schwieriger wäre, ein großes Orchester zu dirigieren als ein mittleres oder kleines. Aber das stimmt nicht: Oft ist es sogar leichter, am Wagner-Pult zu stehen als am Beethoven- oder Mozart-Pult. Denn ein großes Orchester ist nicht nur anonymer, sondern bietet meist auch mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Außerdem spielen ja selten alle Musiker auf einmal.
Apropos: Auch der Wagner-Chor singt nicht immer in voller Stärke. Mal ist das so komponiert, mal gehorcht es aufführungspraktischen Erwägungen. So gilt Wilhelm Furtwängler als Erfinder der Chorverkleinerung in der berüchtigten Prügelszene am Ende des zweiten Aktes «Meistersinger». In dieser Szene fallen die durch Beckmesser aus dem Schlaf gerissenen ach so braven Nürnberger Bürger nach und nach übereinander her. Musikalisch basiert das Ganze auf einem Fugato, einer fugenähnlichen Struktur. Das heißt, Wagner gibt dem größten Chaos den Anschein mathematischer Präzision – vielleicht weil die braven Bürgersleute letztlich doch nicht aus ihrer Haut können. In jedem Fall ist die Umsetzung dieser «Fuge» bei einem 130 Mann starken Chor nicht leicht, zumal auch auf der Bühne einiges an Aktion stattfindet. Furtwängler war diese Koordinationsprobleme leid und kam auf die verdienstvolle Idee, den Chor zu splitten: in einen Stamm, der sich in der Szene nicht groß bewegt und für das musikalische Gerüst sorgt, und in einzelne Gruppen, die mal singen, mal spielen und sich dabei möglichst abwechseln. Der Betrachter nimmt diese Differenzierung kaum wahr, weswegen sie bis heute gerne angewandt wird. Ganz abgesehen davon wird es ohnehin viel zu laut, wenn alle Meister, Gesellen, Lehrbuben, Nachbarn und Nachbarinnen im vollen Tutti-Ornat loslegen.
Mit der Zeit, wie gesagt, wurde das Wagner-Orchester immer reicher und größer. In der Aufführungspraxis führte diese Entwicklung dazu, dass man die Streicherstärken des «Rings» bald auch auf die früheren Werke übertrug. In einer Bayreuther «Tannhäuser»- oder «Lohengrin»-Vorstellung sitzen heute ebenfalls 16 erste und 16 zweite Geigen – ganz gleich ob diese bei den Uraufführungen 1845 in Dresden («Tannhäuser») oder 1850 im kleinen Weimar («Lohengrin») jemals Platz gehabt hätten. Wahrscheinlich war Richard Wagner seinerzeit schon mit acht Geigen pro Stimme zufrieden und gut bedient. Doch was wäre im Sinne einer historisch informierten Aufführungspraxis nun korrekt? Sich an die mutmaßliche Originalbesetzung zu halten und den Grund von Wagners Unzufriedenheiten weiter zu tradieren? Oder ihn gegen sich selbst zu verteidigen, indem man davon ausgeht, dass ihm eine «vorzügliche» und «starke» Besetzung auch in jungen Jahren bereits lieber gewesen wäre? Historische Aufführungspraxis heißt für
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