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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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«Meistersinger»-Vorstellungen thronten die Wagners direkt hinter mir in der ersten Reihe. Das heißt, auf den Monitoren (für die Sänger und den Inspizienten) waren immer auch Gudrun und Wolfgang Wagner zu sehen. Die Leute hinter der Bühne gerieten völlig aus dem Häuschen: «He looks exactly like his grandfather!» Und das stimmte. Manchmal, wenn er während einer Probe in Bayreuth durch die vorderen Reihen des Festspielhauses tappte, und man sah ihn so im Profil, mit diesen schlohweißen wehenden Haaren und dieser Nase, dachte man unwillkürlich: Da geht Richard Wagner selbst und hört jetzt seine eigene Musik.
    Von 2000 bis 2002 also «Die Meistersinger» in Bayreuth, 2001 außerdem «Parsifal» (als Einspringer für Christoph Eschenbach) sowie Beethovens Neunte, von 2002 bis 2005 «Tannhäuser» und, wie sich schon bald abzeichnen sollte, ab 2006 der neue «Ring». Ich war am Ziel. War ich am Ziel? Gibt es so etwas überhaupt?
    Ein Wagner-Ziel gibt es in gewisser Weise schon. Wagner in Bayreuth dirigieren zu dürfen, ist für alle, die die Aura des Ortes spüren und das Haus mit seinen akustischen Eigenheiten akzeptieren oder gar lieben, der Gipfel. Es gibt nichts Höheres und für mein persönliches Ausdrucks- und Schönheitsbedürfnis nichts Befriedigenderes (wobei die einzelnen Werke auf das Festspielhaus sehr unterschiedlich reagieren). Mit den Erfolgen sind aber auch meine Zweifel größer geworden. Je mehr man weiß und kann, desto mehr weiß man eben auch, wie viel mehr man noch wissen und können müsste. Dann betrachte ich die großen Alten, den Knappertsbusch im weißen Hemd mit Hosenträgern und seinem langen Taktstock, den alten Karajan, den alten Günter Wand, die gar nichts mehr machen mussten am Pult, und weiß, dass ich davon noch Lichtjahre entfernt bin. Denen war die Musik zur «zweiten Natur» geworden, wie mein Lehrer Helmut Roloff immer sagte. Richard Wagner stellt seine Dirigenten vor derart komplexe Schwierigkeiten, technisch, handwerklich, musikalisch, mental, emotional, physisch und intellektuell, dass jede Form von Selbstzufriedenheit oder Übermut fehl am Platze ist. Man kann auf der Wagner-Leiter weiter und weiter klettern – es wird immer Luft nach oben sein.
    Inzwischen sieht man es mir vielleicht nicht mehr so an, aber in den letzten Minuten vor einem Auftritt denke ich oft, nicht nur in Bayreuth, jetzt würde ich am liebsten weglaufen oder tot umfallen. Tschüss, ich kann das nicht, ich bin leider gerade gestorben. Der Magen dreht sich um, der ganze Körper revoltiert, und was da in mir tobt, ist kein einzelner Schweinehund, sondern eine ganze Bastion. Über Carlos Kleiber gibt es viele Geschichten, die alle von dieser Angst handeln. Dass er in einer grünen Minna von München nach Bayreuth geschafft worden sein soll, weil Wolfgang Wagner ihn in letzter Sekunde überreden konnte, die bereits abgesagte «Tristan»-Vorstellung doch noch zu dirigieren. Oder der legendäre Zettel, den Kleiber den Wiener Philharmonikern nach einer verpatzten Probe mit Beethovens Vierter hinterließ: «Bin ins Blaue gefahren.» Das sind herrliche Anekdoten, man lacht darüber, zumal sie gut zu Kleibers sonstigen Eulenspiegeleien passen. Aber ich frage mich: Wie hat es in diesem Menschen ausgesehen? Wie groß muss seine Angst gewesen sein und wie monströs sein Anspruch?
    Ich könnte nicht so reagieren wie er, dafür bin ich zu bodenständig und zu pflichtbewusst und wiederum zu ängstlich. In den Momenten, in denen die Schweinehunde toben, sage ich mir: Trotzdem. Ich will das jetzt. Ich will mich überwinden. Es ist nicht schön, auf dem Zehn-Meter-Brett zu stehen und nicht zu springen.
    Oder wie reimt der späte Beethoven 1825 in einem Kanon? «Doktor sperrt das Tor dem Tod, Note hilft auch aus der Not.» Das passt eigentlich immer.

II

Wagners Kosmos

 
    Ich möchte Richard Wagner nicht persönlich begegnen. Ich glaube, ich würde mich vor ihm fürchten. Wenn er zur Tür hereinkäme mit seinen 1,66 Metern und hätte vielleicht ungewaschene Haare unterm Samtbarett und hörte nicht auf zu sächseln und zu schwadronieren, über das Wetter und den Nachtschlaf und seine Hunde Russ und Putz und Molly, über Atlasbeinkleider, Zahngeschwüre, Klistiermethoden und bevorzugte Sängerinnen – ich wäre erledigt. Desillusioniert. Nicht, weil ich ein so hehres romantisches Bild von ihm habe, sondern weil ich erkennen müsste, wie stark die Wagner-Welt auseinanderfällt: ins Wirkliche und ins Mögliche,

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