Mein Leben mit Wagner (German Edition)
seiner Hexenküche nähern, dann tun sie auch das auf praktische Art. Dann wird stundenlang über das dritte Horn von links diskutiert oder darüber, wo der Chor in dieser oder jener Szene stehen muss und wo er auf keinen Fall stehen darf ; dann gibt es auf den ersten Blick keinerlei Voraussetzungen und keine Kunstanschauung, keine musikalische Ästhetik oder Sonstiges an Hintergrund. Das freilich täuscht, denn ohne Überblick und Hintergrund geht es nicht, gerade bei Wagner nicht. Jeder, der sich nicht fragt, woraus die Wagnersche Hexenküche eigentlich besteht, ist verloren. Woher kommen ihre Zutaten, wo hängen ihre Töpfe und Pfannen, und kocht sie noch mit Feuer oder schon mit Gas? Anders formuliert: Der Dirigent muss zunächst einmal eine genaue Kenntnis des Wagner-Orchesters haben, er sollte sich mit der Sprache in Wagners Texten beschäftigen und wissen, warum Wagner diese Stoffe wählte und keine anderen. Auf allen drei Gebieten – Orchester, Text, Stoff – hat Wagner Neuland betreten, und auf allen dreien befremdet er uns immer wieder. Das Orchester: riesig! laut! Die Texte: unverständlich! lang! Die Stoffe: altbacken! verschwurbelt! Ich denke, es wird Zeit, anzufangen und etwas Licht ins Dunkel dieser Vorurteile zu bringen.
Das Wagner-Orchester
Das Wagner-Orchester ist ein Paradox. Je größer es wird, desto feiner, leiser und kammermusikalischer klingt es; und je kleiner es ist, desto lauter klingt es. Am lautesten sind die sogenannten Jugendwerke, vom «Liebesverbot» bis zum «Fliegenden Holländer». Wagner-Orchester ist also nicht gleich Wagner-Orchester, die Instrumentierung fällt sehr unterschiedlich aus. Beim «Holländer» zum Beispiel sitzen nur vier Hörner und zwei Trompeten im Graben, und es kann ohrenbetäubend laut sein. In der «Götterdämmerung» hingegen sieht man acht Hörner (von denen zwei Tenortuben und zwei Basstuben sein können), drei Fagotte (das zweite ein Kontrafagott), eine Kontrabasstuba, drei Trompeten nebst Basstrompete sowie drei Posaunen nebst Bassposaune – und es ist mitnichten so laut. Sicher gibt es hier Stellen mit dreifachem Forte, aber sehr punktuell, sonst würde es keinen Effekt machen. Wagner wird in seiner Orchesterbesetzung immer differenzierter. Um auszudrücken, was er ausdrücken möchte, bedient er sich eines stetig wachsenden, immer reicheren und vielgestaltigeren Apparats. Das Orchester wird größer und größer, und gleichzeitig spielen die Musiker immer seltener alle auf einmal.
Was die Streicher angeht (erste und zweite Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässe), so schreibt Wagner gern «vorzüglich und stark zu besetzen». Grundsätzlich wollte er so viele Musiker im Graben sitzen haben, wie irgend Platz finden. Was Bayreuth betrifft, also seit 1876, bedeutet das 16, 16, 12, 12 und 8 – also 16 erste und 16 zweite Geigen, zwölf Bratschen, zwölf Celli und acht Kontrabässe. Daran ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen verlangt Wagner zwei gleich stark besetzte Geigengruppen. Das dürfte auf den abgedeckten Bayreuther Orchestergraben zurückzuführen sein, den «mystischen Abgrund», in dem die zweiten Geigen – links vom Dirigenten sitzend – gegen den Deckel anspielen müssen. Um diesen «Nachteil» auszugleichen, zählt das Orchester bei Wagner, anders als bei Mozart, Weber, Verdi oder Strauss, genauso viele zweite wie erste Geigen. Zum zweiten sieht man hier, wie wenig basslastig Wagners Musik doch ist. Acht Bässe bei 32 Geigen sind nicht viel. Der Eindruck des tiefen, dunklen, wie Lava sich ergießenden Klangs hat womöglich also ganz andere Gründe, harmonische, synästhetische oder solche des subjektiven Erlebens.
Einen Spezialfall bei den Bläsern stellt die Wagner-Tuba dar (auch Horn-, Ring- oder Rheingold-Tuba genannt), die Wagner eigens für den «Ring des Nibelungen» bauen ließ. Der Name ist irreführend, denn diese Tuba ist gar keine Tuba, sondern gehört in die Familie der Waldhörner. Ihre Bauform erinnert an das Tenorhorn: schlank und elegant in die Länge gezogen. Das Instrument kommt in zwei Größen und Stimmungen vor, in B (in der Tenorlage, dann ist es kleiner) und in F (in der Basslage, dann ist es entsprechend größer). Die Wagner-Tuba klingt wie eine Tuba, ohne die charakteristisch runde, noble Anmutung des Horns aus den Ohren zu verlieren. Ein natürliches, leicht verschattetes, fast mystisches Timbre. An ihm lässt sich ermessen, wie akribisch Richard Wagner seine inneren Klangvorstellungen
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