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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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siehst, mein Sohn, /zum Raum wird hier die Zeit», sagt Gurnemanz zu Parsifal, als er mit ihm zum ersten Mal die Gralsburg betritt, und ich habe diese viel diskutierte Rätselformel immer auch auf Wagners Kompositionsweise bezogen. Die Musik definiert die Zeit (dadurch dass sie in der Zeit vergeht), sie kleidet sie aus – und errichtet so eine veritable Klang kulisse . Die Musik schafft sich den Raum, in dem sie spielt. Die Musik ist dieser Raum.
    Ebenfalls anders und neu fühlt sich Wagners Umgang mit den beiden Gegenwelten an. Auf Anhieb meint man, auch das zu kennen: hier das diatonisch-starre Schreiten der Gralswelt (à la Wartburg), da das chromatisch-schwüle Flirren der Klingsorschen Zaubermächte (à la Venusberg); hier viel priesterlich-archaischer Kirchenton, da die reinste Mischklangorgie. Nur: Wie verarbeitet Wagner diese Spannung? Gar nicht, er lässt sie einfach bestehen. Wuchtet Blöcke nebeneinander und schreibt Leerstellen dazwischen, Generalpausen, wie jene Viertelpause zu Beginn, immer wieder. Was sich bewegt, bewegt sich nur innerhalb der jeweiligen Sphäre, eine Vermittlung findet nicht statt. Weil es nur das eine oder das andere gibt, nicht das eine im anderen? Weil der Mensch sich zwischen Sinnenrausch und Sendung zu entscheiden hat? Etwas Ähnliches ist übrigens im Orchestersatz zu beobachten: Auch hier arbeitet Wagner gerne block- bzw. gruppenweise, mit Holz, Blech oder Streichern, als zöge er die Register einer Orgel.
    Der «Parsifal»-Kunst des «feinsten und allmählichsten Übergangs» (Wagner) steht also eine bestimmte Architektur gegenüber. Man kann das sicher kontrovers interpretieren: als Altmännerphantasie über die Befreiung von aller Geschlechtlichkeit und Sinnlichkeit (Cosima, 45, dürfte sich bedankt haben), als Bekenntnis zu einer Reinheit der Kunst, die durch nichts und niemanden gestört werden darf. Ich sehe das nicht ganz so keusch und katholisch. Ich denke vielmehr, dass Wagner hier sein eigenes Komponieren komponiert hat: Der «Übergang», das ist das Werk – und die Architektur, das ist das Festspielhaus. Der «Parsifal» ist das einzige Musikdrama Wagners, das dem gedeckelten Orchestergraben und der Bayreuther Akustik wirklich auf den Leib geschrieben wurde. Im «Ring» konnte er diese Gegebenheiten nur antizipieren; im «Parsifal» kostet er sie aus.
    Dabei bleibt das Mysterium stets auch handgreiflich. Oft lässt Wagner in den Streichern beispielsweise nur die Hälfte der Besetzung spielen, das wirkt dann, als ob der Klangkörper so ein kleines bisschen abheben würde. Oder er legt unterschiedliche Metren übereinander, in einem langsamen 4 / 4 -Takt taucht plötzlich ein 6 / 8 -Takt auf, wodurch alles zu vibrieren beginnt. Wenn der Dirigent an solchen Stellen keine rhythmischen Zählfeste abhält, sondern schön atmet und phrasiert, dann kriegt er diesen feinen Puder, dieses Pulsieren im Orchester, das einen schier besoffen machen kann, vor allem in Bayreuth. Aber es gibt auch andere Stellen, regelrecht expressionistische, und erst im Kontrast entfaltet sich die Wirkung. Kundrys berüchtigtes «lachte» im zweiten Akt etwa, wenn sie Parsifal erzählt, dass sie den Heiland am Kreuz verspottete, da muss man wirklich das Gefühl haben, jetzt ist das Festspielhaus gerade abgebrannt. Wagner setzt dieses «lachte» als kleine Septime, h – cis, danach folgt eine Generalpause mit Fermate, in der Parsifal sich «entsetzt» abwendet. Ich würde immer versuchen, dieses Entsetzen, diesen Blick in den menschlichen Abgrund so lange wie möglich zu halten und auszuhalten. Aber das hängt auch von der Sängerin der Kundry ab, wie intensiv sie das bringt, welchen Schauder und Nachhall sie provoziert. Das Orchester übrigens hält sich hier einmal mehr zurück. Holzbläsertriolen im Piano, ein Sforzato, dann stürzt Kundrys Cis ins Bodenlose.
    Von einigen wenigen Stellen abgesehen, ist der «Parsifal» ohnehin nicht laut instrumentiert, es gibt kaum grelle Effekte, und selbst das Feierliche kommt eher gemessen daher als pompös. Ein Stück der Mitte, wenn man so will, bei allen Extremen. Und das ist die hohe Kunst: das richtige Maß zu treffen. In den langsamen Tempi nicht in Weihe zu erstarren, den alten Gurnemanz im ersten Akt erzählen und nicht salbadern zu lassen, in den Generalpausen kein Vergrößerungsglas zu zücken, sondern die Spannung zu halten und trotzdem, wo es Not tut, alle Hüllen fallen zu lassen. Ich sage so etwas nicht gern, aber vielleicht ist der

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