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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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19. Jahrhunderts dann bewegt sich der Stock aus der Vertikalen in die Horizontale, er emanzipiert sich von der Schwerkraft, wenn man so will, ist mehr Verlängerung des menschlichen Arms als alter Schellenbaum – und macht den Dirigenten zum Dreh- und Angelpunkt der Aufführung.
    Abgesehen davon, dass Lullys Missgeschick Wagner nicht passieren konnte (er wäre auch sofort zum Arzt gerannt), ist es gar nicht so leicht, sich ein Bild von seiner Kapellmeisterei zu machen. Mendelssohn soll, lese ich bei seiner Schwester Fanny, «ein nettes leichtes, mit weißem Leder überzogenes Fischbeinstöckchen» benutzt haben, Berlioz hingegen, ebenfalls nach Fannys Zeugnis, einen «mit der Rinde versehenen, ungeheuren Lindenknüppel». Auch Wagners Stock besaß offenbar nicht die fortschrittliche Schlankheit, weshalb er ihn nach älterer Manier ein Stück oberhalb des unteren Endes packte. Für einen besonders biegsamen Schlag und feinen musikalischen Pinselstrich spricht das nicht. Willi Bithorns Schattenriss von Wagner als Dirigenten bildet denn auch eher den Wirkungsfuror ab – und das typische Klischee: die Arme ekstatisch nach oben gerissen, die Frackschöße fliegen, der ganze Mensch bäumt sich auf, balanciert auf Zehenspitzen, und der Wind, den er verursacht, fährt geradewegs in die Noten. Wäre da nicht das unverkennbare Wagner-Profil, die Nase, das Kinn, man könnte meinen, man habe es mit einem jener Scherenschnitte zu tun, die Otto Böhler bald darauf von Gustav Mahler anfertigte.
    So halte ich mich lieber an Gustav Adolf Kietz’ «Erinnerungen an Richard Wagner», wo es heißt: «Das Haupt erhoben, den Oberkörper unbewegt, die linke Hand an der Seite ruhend, in der rechten den Taktstock, nicht mit dem Arm, sondern mit dem Handgelenk dirigierend – so steht Wagner in der Aufführung vor dem Orchester. Seine Leidenschaftlichkeit scheint nach außen gebändigt, sie entlädt sich aber im Mienenspiel und vor allem im Blick des Auges, das er als das wichtigste Mittel der Willensübertragung bezeichnet.» Das erscheint mir persönlich eher glaubwürdig. Doch Kietz war Bildhauer: Vielleicht ist seine Darstellung mehr der Behäbigkeit seines Materials geschuldet als den musikalischen Tatsachen?

    Richard Wagner dirigierend, Schattenriss von Willi Bithorn aus dem Jahr 1870
    Noch schwieriger ist es, sich von Wagners Stil eine Vorstellung zu machen. An Zeugnissen mangelt es zwar nicht, Selbstaussagen und Kritiken, von Busenfreunden wie Erzfeinden, gibt es zuhauf. Demnach waren Wagners Dirigate hauptsächlich von «Temporückungen», einer ausufernden «Rubato-Technik» und großer «Expressivität» geprägt. Doch meinen diese Schlagwörter 1855 das gleiche wie heute? Der Beruf des «Dirigier-Solisten» ist damals noch jung, jedes freiere Gestalten vom Pult aus steht also per se unter Sensationsverdacht (während man heute nichts anderes erwartet). Außerdem würden wir uns über den technischen Standard der Orchestermusiker wohl die Haare raufen. Die Grenzen zwischen Subjektivität und Schlamperei, zwischen Anarchie und Dilettantismus dürften daher stark fließend gewesen sein. Und wichtig ist natürlich auch: Wagner hat sich zeitlebens als Komponist begriffen, nicht als Kapellmeister. Das Dirigieren war ihm mehr Krücke als Passion, mehr Mittel zum Zweck und Strategie. Er wollte um jeden Preis berühmt werden – um als Berühmtheit seine Musikdramen besser lancieren zu können.
    Wie ihm das gelingen konnte, ist mir ein Rätsel, offen gestanden. Der Mann war nicht nur Autodidakt (was noch nichts heißt), sondern auch ein armseliger Pianist und hoffnungsloser Geiger, selbst im Partiturlesen tat er sich schwer, und das Transponieren eigener Stücke am Klavier trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Was hatte jemand mit einer so mangelhaften Qualifikation bloß vor einem Orchester verloren? Und wie kam er dazu, den Opern- und Konzertbetrieb bei jeder sich bietenden Gelegenheit als «Travestie» und «Trödel» zu beschimpfen? Woher diese Hybris?
    Ein einziger Blick in die Partitur des «Tristan» oder des «Parsifal» genügt, und die Diskussion löst sich in Luft auf. Was bleibt, ist eine mächtige Diskrepanz: Derjenige, der von allen seinen Zeitgenossen am wenigsten praktizierender Virtuose ist, kein Wunderkind wie Mendelssohn, kein Dämon wie Paganini, kein Freigeist wie Franz Liszt, pflügt die musikalische Landschaft am tiefsten um. Als schöpferischer wie als nach-schöpfender Künstler, als Komponist wie als

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