Mein Leben mit Wagner (German Edition)
«Lohengrin» oder ein «Tannhäuser» verstanden sich von selbst, schließlich identifizierte man sich mit den Vorvätern und ließ sie als Beispiele gerne leuchten. Sie galten als Garanten jener zwischenzeitlich (mehr oder weniger seit dem Mittelalter) verloren gegangenen kollektiven Identität, die man nun neu zu erringen versuchte. Wagner lieferte dafür die Vorlagen. Was er allerdings im Einzelnen aus den Figuren und ihren Geschichten machte, politisch, psychologisch, ästhetisch, das steht auf einem anderen Blatt. Das historisierende Gewand hat er wohlweislich nie verletzt.
Siegfrieds Kampf mit dem Drachen: Illustration zur Inszenierung von Wagners «Ring des Nibelungen» an der Mailänder Scala im Jahr 1899
Letztlich ist Wagners Modernität für mich aber eher eine Frage der Musik als eine der Stoffe. Insofern habe ich zu seinen Stoffen immer eine gewisse Distanz gehabt und habe sie noch, das gebe ich gerne zu. Nichts gegen die Vision vom Gesamtkunstwerk und erst Recht nichts gegen den Sprachvirtuosen und Librettisten Wagner. Vielleicht sehe ich auch nur das Kostüm, in das er schlüpft, und misstraue diesem, weil mich das, was darin oder dahinter steckt, sehr viel mehr interessiert. Auch Richard Strauss arbeitet in seinen Opern gern mit mythischen Stoffen, wenngleich nicht mit germanischen, sondern mit griechischen (man denke an «Elektra», «Ariadne» oder «Daphne»). Abgesehen davon, dass uns diese hellenische Welt wie gesagt vertrauter ist, geht es mir dabei ganz ähnlich. Nehme ich als Dirigent wirklich am Schicksal der Königstochter Ariadne Anteil, die auf Naxos ihre Liebesverlassenheit beklagt, oder zerbreche ich mir den Kopf darüber, warum Strauss diesen Stoff 1912 als Oper in der Oper vertont und was mir das Artifizielle in seiner Musik wohl sagen will? Wahrscheinlich eher letzteres, und auf keine andere Diskrepanz hatte es schon Wagner abgesehen – seinerseits in guter Tradition übrigens. Händel, Mozart, Gluck, sie alle wollten dem Musiktheater neue Bahnen eröffnen und haben es getan. Bei Wagner klaffen das Archaische (seiner Stoffe) und das Avantgardistische (seiner Musik) nur ganz besonders stark auseinander, als zeigte das eine mit dem Finger auf das andere. Was für eine Herausforderung. Und was für ein Glück.
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«Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt»:
Wagner und seine Dirigenten
In Bayreuth sind Wagners Visionen Architektur geworden, nirgends kommt man seinem Entwurf einer anderen, gerechteren, freieren, künstlerischeren Welt so nah wie im Bayreuther Festspielhaus, schon rein gefühlsmäßig. Und was man hier vor allem spürt, ob man sich mit der Wagnerschen Theorie des Gesamtkunstwerks nun auskennt oder nicht: Jedes Rädchen im Getriebe ist wichtig, auf jeden Einzelnen kommt es an. Nur der Dirigent ragt aus dem Wagner-Kollektiv ein wenig hervor. Höher als in jedem anderen Opernhaus der Welt thront er im Bayreuther Orchestergraben über den Musikern, wie der Priester auf seiner Kanzel. Der Dirigent ist der König des Abends, der erste Stellvertreter und «Handlanger» des Komponisten, bei ihm laufen die Fäden zusammen, im übertragenen wie im praktischen Sinn. Auch deswegen möchte ich ihm hier ein eigenes Kapitel widmen. Sucht man nämlich einen Gradmesser für unseren Umgang mit den extremen Herausforderungen von Wagners Kunst, so findet man ihn zu allererst in der honorigen Reihe der Wagner-Dirigenten. Wer sie kennenlernen will, muss bei Wagner selbst beginnen. Schließlich war er – wie die meisten Komponisten seiner Zeit – auch sein eigener Interpret und hat überhaupt als Dirigent von sich reden machen.
Wagner am Dirigentenpult
Neben Mendelssohn und Hector Berlioz gilt Richard Wagner als einer der ersten Profi-Dirigenten überhaupt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er einen Taktstock benutzte. Dieser stellte zwar im 19. Jahrhundert keine ganz neue Errungenschaft mehr dar, brachte dem Dirigenten aber eine neue Macht und in die Musik eine neue Ordnung. Im 18. Jahrhundert lenkten meist die Instrumentalsolisten oder die Konzertmeister am ersten Geigenpult das Geschehen, und wenn überhaupt, wurde der Takt für alle hörbar geschlagen – durch Klopfen beziehungsweise Stampfen mit dem Stock auf den Boden. Legendär ist die Geschichte des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully, der sich im Eifer des Gefechts einen solchen Stock in den Fuß rammte und an Blutvergiftung starb, weil er jede ärztliche Behandlung verweigerte. Anfang des
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