Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
Vom Netzwerk:
vor allem Stolzings Preislied, jene frisch geborene «Meisterweise», die scheinbar jedes Regelwerk sprengt und am Ende des Wettsingens doch den Sieg davonträgt. Das Neue, sagt Wagner hier mit einer einzigen augenzwinkernden Akzentverschiebung, müssen wir uns erst erarbeiten.
    Ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein, wird dies weder Sängern noch Dirigenten bei Wagner gelingen. Wir leben in einer globalisierten Musikwelt, und wenn ein Dirigent kein Deutsch kann, ist es Usus, dass die Assistenten einen Teil der Arbeit für ihn erledigen: die Arbeit mit den Sängern an Aussprache und Artikulation, das Aufspüren von Witz und Ironie, überhaupt alle tiefer gehenden inhaltlichen Fragen. Das halte ich für falsch, ja für fatal. Dass Wagner das Bühnengeschehen in der eben geschilderten Weise musikalisiert beziehungsweise verklanglicht, heißt nicht, dass man sich auf die Musik allein verlassen darf. Um Verdi und Puccini besser zu verstehen, habe ich Italienisch gelernt. Bis heute aber spreche ich weder Tschechisch noch Russisch – und würde Janáček und Tschaikowsky auch nicht in der Originalsprache spielen, sondern lieber, ganz altmodisch, auf Deutsch. Das ist ästhetisch und politisch nicht sonderlich korrekt, aber wenn ich nicht weiß, ob gerade von rollenden Köpfen oder von goldenen Knöpfen die Rede ist, wenn ich am Pult rein phonetisch agiere, beraube ich mich einer entscheidenden Dimension. Der Dirigent muss wissen, was er dirigiert.
    Wagner verführt und verlockt uns mit seinen Düften, seinen Klangorgien, seinen ganz speziellen Essenzen. Um uns in den psychedelischen Rauschzuständen, die er evoziert, nicht zu verlieren, haben wir nur eine Chance: Wir müssen ihn beim Wort nehmen, buchstäblich, wir müssen verstehen, was verstanden werden kann, und seine Trickkiste bis in die hintersten Winkel ausleuchten. Der Rätselrest, der dann bleibt, ist immer noch groß genug.
    Die Stoffe
    Wenig verführerisch, ja geradezu sperrig erscheinen uns heute oft Wagners Stoffe. Warum diese germanischen Mythenwelten voller dunkler Riten und Kulte, voller Nornen, Alben, Trolle und Walküren? Das helle Licht der antiken Götter- und Sagenwelt lassen wir uns gern gefallen, mit Wotan und Erda hingegen fremdeln wir. Man muss Wagner aber auch aus seiner Zeit heraus verstehen. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der jungen, eifernden Nationen und ihrer Symbole. Der Kölner Dom wurde nach über 600 Jahren fertiggestellt, man restaurierte die Marienburg und andere historische Baudenkmäler, in Preußen brach 1830 die Polenbegeisterung aus – und diese ganze Selbstvergewisserung im Vergangenen gipfelte schließlich 1871 in einem ebenso visionären wie spekulativen Projekt, in der Gründung des deutschen Reichs. Das ist der Geist, in den Wagner 1813 hineingeboren wurde und aus dem er bis ans Ende seines Lebens schöpfte. Wagner verstand sich als Konservativer und als Revolutionär, diese Spannung war für seine Kunst von Anfang an essentiell. Genau das ist auch der Motor, den wir bis heute spüren.
    Richard Wagner wollte das Leben beschreiben, wie es ist, das ganze Leben. Dazu brauchte er Stoffe, die einerseits diesen Anspruch untermauerten und ihm andererseits genügend Freiheit ließen. Er brauchte also Mythen, doch im Grunde hat er Quellen wie die Edda, das Nibelungenlied, das «Tristan»- oder das «Parzival»-Epos nur benutzt und für seine Zwecke instrumentalisiert. Er hat sich in diese mythischen Dichtungen gehüllt wie in kostbare archaische Gewänder – um darunter ganz andere, zeitgenössische und subversive Dinge zu treiben. Wagner wollte mit dem «Ring» weder die Edda noch das Nibelungenlied vertonen, das lag ihm völlig fern. Er wollte ein Welttheater errichten und in gigantomanischer Breite erzählen, was passiert, wenn der moderne Mensch sich über dem Streben nach Besitz und Reichtum selbst vergisst. Er hatte diese Idee und suchte dazu den passenden Mythos oder Stoff, nicht umgekehrt. Das darf man als Wagnersches Prinzip wohl festhalten. Insofern hätten es statt «Tristan und Isolde» wahrscheinlich auch «Romeo und Julia» sein können, nur war die Shakespeare-Begeisterung Mitte des 19. Jahrhunderts weniger ausgeprägt als die fürs höfische Mittelalter, und das gab vermutlich den Ausschlag.
    So gesehen ist Wagners Weg zum Mythos eigentlich logisch. Als Kind seiner Zeit lag das Mittelalter für ihn in der Luft, und er musste sich für die Wahl dieses oder jenes Stoffes nicht groß legitimieren. Ein

Weitere Kostenlose Bücher