Mein Leben mit Wagner (German Edition)
den wird das unter den strengen Augen eines Pierre Boulez doppelt reuen, auf dem Weg zurück in eine «Götterdämmerung» oder einen dritten Akt «Meistersinger» …
Viele meiner Kollegen verstehen die Phalanx dieser schweren Jungs (ein Mädel ist bis heute leider nicht dabei) als Drohgebärde, ja als Nötigung zum Spießrutenlauf. Ich denke, die Tradition in Bayreuth hatte von Anfang an viele Gesichter, und sie alle schauen dich an. Im Eifer des Proben- und Festspielgefechts kann man ihre Blicke oft nicht erwidern. Vor einigen Kollegen aber bleibe ich von Zeit zu Zeit gerne stehen und führe kleine Kopf- und Zwiegespräche. Und es ist faszinierend, sich mit der einen oder anderen Physiognomie und Lebensgeschichte näher zu beschäftigen. Als Wagner-Dirigent muss ich wissen, auf wessen Schultern ich stehe. Ich muss es wissen, um auch das immer wieder vergessen zu können. Denn ohne Vergessen kann nichts Eigenes entstehen.
Die Bayreuther «Verbrechergalerie»
Vom Graben aus geht es rechts zunächst eine Rampe hoch, dann durch eine Schleuse hindurch, in der die Koffer und Kästen der großen Streichinstrumente lagern, der Kontrabässe und der Celli – und dann steht man auch schon vor dem ersten Gesicht. Richard Wagner, was viele denken, ist es nicht. Er hat zwar eigene Werke dirigiert, aber nie in Bayreuth. Jedenfalls nicht offiziell, dafür fehlten ihm (der beim «Ring» wie beim «Parsifal» Regie führte) die Zeit und die Konzentration. Einzig in der letzten «Parsifal»-Vorstellung des Uraufführungssommers 1882, am 29. August, übernimmt er nach der Verwandlungsmusik des dritten Aktes von Hermann Levi den Taktstock und dirigiert sein «Bühnenweihfestspiel» zu Ende – unbemerkt vom Publikum, denn der Graben hat ja einen Deckel. Im nächtlichen Gespräch mit den Kindern über «das soeben Erlebte» sei man sich einig gewesen, so heißt es bei Cosima, «wie anders das Orchester unter seiner Leitung gespielt habe und wie unvergleichlich anders H. Reichmann das: ‹Sterben, einzige Gnade› gesungen.» Amfortas’ Worte als Orakel? Kaum ein halbes Jahr später stirbt Wagner 69-jährig in Venedig an einem Herzleiden.
H ANS R ICHTER , Jahrgang 1843, der Uraufführungsdirigent des «Rings», ist der erste Bayreuth-Dirigent und ein enger Vertrauter Wagners seit den 1860er Jahren, als er die Druckvorlage der «Meistersinger»-Partitur herstellte. Richter isst und trinkt gern, wie man sieht, trägt einen professoralen Rauschebart und gilt als musikalisches Unikum. Er beherrscht nahezu alle Instrumente selbst und kann die Musiker unangenehmerweise sofort eines Besseren belehren, wenn diese über unüberwindliche technische Schwierigkeiten klagen. Für die Bayreuther Wiederaufnahme des «Rings» 1896 verlangt er 46 Orchesterproben – und bekommt sie! Wagner hält Richter zwar für «den Besten», grollt ihm aber wegen seiner zu langsamen Tempi: «Ich glaube wirklich auch, Sie halten sich durchgängig zu sehr am Viertelschlagen, was immer den Schwung eines Tempos hindert, namentlich bei langen Noten, wie sie in Wotans Zorn häufig vorkommen. Man schlage meinetwegen selbst die Achtel aus, wo der Präzision dadurch genützt wird: nur wird man nie ein lebensvolles Allegro durchgängig durch Viertel im Charakter erhalten.» Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Richter stirbt 1916 und liegt in Bayreuth begraben.
Gleich neben ihm hängt H ERMANN L EVI , 1839 geboren, der Uraufführungsdirigent des «Parsifal», außerdem Münchner Hofkapellmeister. Er ist der Sohn eines Rabbiners. Auch Levi trägt Bart, seine Augen sehen traurig aus. Wagner wählt ihn aus Unzufriedenheit mit Richter und kann sich unschöne Antisemitismen prompt nicht verkneifen. Levi solle sich gefälligst taufen lassen, so wird verlangt, oder «vor Demut nur noch gebückt herumlaufen». Ein anderes Mal liest Wagner ihm laut einen unflätigen anonymen Brief vor, woraufhin Levi abreist. Und als dieser kurz nach der erfolgreichen Bayreuther «Parsifal»-Premiere in Depressionen verfällt und die Familie Wagner in Sorgen über ihren «Kmeister» zergeht, wird das dem Meister selbst schnell zu viel: Man dürfe mit den «Israeliten» eigentlich nicht umgehen, schimpft er in seinem venezianischen Palazzo, «entweder würden sie gemütskrank darüber, oder es drücke sich durch Hochmut ‹…› aus!» Den «Parsifal» absolviert Levi in vier Stunden und vier Minuten, was als Idealmaß gelten darf (nur Clemens Krauss war 1953 mit 3’44 noch
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