Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Dirigent. Man liest öfter, Wagner habe sich bewusst zum Dilettanten stilisiert: um alle Experten, alle Hüter der Tradition zu blamieren – und selber am Ende als strahlender Messias zu erscheinen. George Bernard Shaw formuliert das etwas netter: Der Musiksachverständige alter Schule müsse bei Wagner erst einmal von Grund auf alles verlernen.
Die Wagner-Schule
Nach allem, was man weiß und lesen kann, dirigierte Wagner gerne auswendig (am liebsten Beethoven-Symphonien, was ihn mir natürlich sympathisch macht). Das erklärt auch das von Kietz beschriebene «Auge», die Emotionalität, mit der er den Musikern begegnete. Der Dirigent Wagner begriff sich als Vergegenwärtiger, als kongenialen Nach-Schöpfer. Der Zuhörer sollte die Musik erleben, als würde sie vor seinen Ohren entstehen. Wagner wollte die Kunst zum Augenblick bekehren und die Welt gleich mit (und was sonst wäre das Wesen einer gelungenen Aufführung?). Viele seiner Ideen wirken bis heute nach, gerade die praktischen. Ohne den Theaterrevolutionär Richard Wagner sähe unser Theater völlig anders aus. Die Verdunklung des Zuschauerraums, die neuartige Gasbeleuchtung auf der Bühne, der Zuschauerraum, der allen gleich gute Sichtverhältnisse bescherte – all dies und noch einiges mehr verdanken wir ihm. Und ohne den Dirigenten Wagner, der so lange nicht ruhte, bis es klang, wie es klingen sollte, würden wir heute auch anders musizieren.
Zu einem Messias aber gehören Jünger – und zu Richard Wagner die «Wagner-Schule». Es ist hoch interessant, hier ein bisschen den Archäologen zu spielen. Da sind zunächst die vier Vertreter der ersten Generation: Hans Richter (der Uraufführungsdirigent des «Rings»), Arthur Nikisch (der Leiter des Leipziger Gewandhauses und der Berliner Philharmoniker), Felix Mottl (der bei der «Ring»-Uraufführung assistierte und selbst Hand an die legendären Schwimmwägen der Rheintöchter gelegt haben soll) sowie Hans von Bülow (Cosimas erster Mann, ein Vorfahre Loriots). Von Bülow nahm später den jungen Richard Strauss unter seine Fittiche, Richter und Mottl unterrichteten unter anderen Alfred Cortot und Hans Knappertsbusch, Nikisch wiederum hatte Einfluss auf Wilhelm Furtwängler wie auf Gustav Mahler, zu dessen Schülern dann Bruno Walter gehörte.
Das liest sich jetzt wie der perfekte Stammbaum des modernen Dirigenten, was es nicht ist. Schon weil es keinesfalls nur diesen einen Baum gibt. Bereits Wagner musste, apropos «Fischbeinstöckchen», Mendelssohn und Berlioz vor und neben sich ertragen, zu Furtwängler gesellte sich als Dauerantipode Arturo Toscanini. Karajan saßen seit den frühen Sechzigerjahren Nikolaus Harnoncourt & Co. im Nacken – und selbst in meiner Generation zählt man die einen ins Töpfchen und die anderen ins Kröpfchen: Die Anhänger des deutschen Klangs (was immer das heißt) werden gegen die Anhänger eines «nicht-deutschen Klangs» in Stellung gebracht, die Pathetiker gegen die Rhetoriker, die Instinktlinge gegen die Intellektuellen. Wobei ich beim besten Willen nicht weiß, wie man «instinktiv» oder «intellektuell» dirigiert. Ich weiß nur, dass wir uns vor solchen Ideologisierungen hüten sollten.
Schaut man sich unter den Dirigenten der Bayreuther Festspiele um, so trifft man anfangs auf zahlreiche Wagner-Schüler, wie sollte es auch anders sein. Versammelt sind die Bayreuth-Dirigenten allesamt in der berühmten «Verbrechergalerie», einem etwa 20 Meter langen, halb unterirdischen Gang, der das Bühnenhaus und den Restauranttrakt des Festspielhauses (die Kantine) miteinander verbindet. Eigentlich ist das Ganze mehr ein Schlauch, kalt, niedrig, merkwürdig beleuchtet, grob verputzt. Hier hängen, zu beiden Seiten, die Konterfeis aller Dirigenten, die auf dem Grünen Hügel jemals tätig waren (aktuell 73 an der Zahl), von Hans Richter, der 1876 auftrat, bis Philippe Jordan, der 2012 sein Debüt gegeben hat. Dirigenten wohlgemerkt, nicht Sänger oder Regisseure, das hat Wolfgang Wagner in den Siebzigerjahren so festgelegt. Größen wie Furtwängler, Toscanini und Knappertsbusch prangen da neben unbekannteren Namen wie Karl Elmendorff oder Thomas Schippers, Charismatiker treffen auf solide Handwerker, Glückliche auf Glücklose. In keinem anderen Opernhaus der Welt ist die Vergangenheit so allgegenwärtig, im Praktischen wie im Ästhetischen, im Mystischen wie im Sinnlichen. Wer in der Pause mal wieder Schweinsbraten mit Klößen gewählt hat statt Salatvariationen,
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