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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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musikdramaturgische Gründe, um mein Tun zu rechtfertigen, auch vor mir selbst. Sonst bleibt die Interpretation aufgesetzt und aufgepfropft und wenig glaubwürdig. Sonst mache ich keine Musik, sondern treibe Satire oder gehorche einem momentanen politischen Gusto. Ich muss mich zum Notentext bekennen, sonst wird alles nichts.
    Der Trauermarsch in der «Götterdämmerung» ist so ein Stück, das Bekenntnisse verlangt. Glaube ich Wagner, dass Siegfried, der Retter der Welt, hier zu Grabe getragen wird – oder sehe ich das knapp achtminütige Zwischenspiel eher pragmatisch, als notwendige Umbaumusik, um szenisch und vor allem bühnentechnisch vom Ufer des Rheins zurück in die Halle der Gibichungen zu gelangen? Fühle ich selbst so etwas wie Betroffenheit oder dirigiere ich gegen jede Betroffenheit an? Das klingt, als hätten wir die freie Wahl. Richard Wagner aber wäre nicht Richard Wagner, wenn er seinen Interpreten die Entscheidung nicht rigoros abnehmen würde: indem er immer beides meint, Pathos und Pragmatismus, Dionysos und Apoll, Inspiration und Kalkül. Auf die Balance, die richtige Mischung kommt es an. Und darauf, den Trauermarsch so zu disponieren, dass er nicht nur als geschlossene Nummer funktioniert, sondern auch als Baustein, als Gelenk im Kontext des gesamten «Rings». Acht Minuten lang die Spannung genauso zu halten wie über 14 Stunden hinweg, damit habe ich als Dirigent alle Hände voll zu tun. Wie man das macht, interessiert mich persönlich, ehrlich gesagt, wesentlich mehr als die eine oder andere «böse» Textstelle. Umzusetzen, was in der Partitur steht, nach bestem Wissen und Gewissen, und dem Publikum die Reflexion, die Meinung zu überlassen – auch das, finde ich, gehört zu einer historisch korrekten Wagner-Pflege.
    In meinen Gesprächen mit Wolfgang Wagner war das Politische selten ein Thema. Über seine Mutter Winifred sprach er gelegentlich. Und ein paar Hitler-Anekdoten wurden erzählt – als Hitler 1923 zum ersten Mal die Festspiele besuchte, war Wolfgang vier Jahre alt und sein Bruder Wieland sechs. Die beiden sind, ob sie wollten oder nicht, mit dem Diktator aufgewachsen. Die besagten Anekdoten beschränkten sich allerdings auf Lappalien – wie Hitler in Wahnfried stundenlang im Kaminfeuer stocherte und die Buben ihn unterhalten sollten, weil er um drei oder vier Uhr morgens die amerikanischen Nachrichten hören wollte; wie viel öfter er vom Hotel Bube in Bad Berneck aus zum Tee oder zum Abendbrot erschien, als die Öffentlichkeit es wusste und wissen durfte; und was überhaupt so alles getratscht wurde über ein mutmaßliches Verhältnis zwischen Hitler und Winifred.

    Adolf Hitler im Gespräch mit Winifred Wagner und Joseph Goebbels im Bayreuther Festspielhaus, 23. Juli 1937
    Sehr viel mehr, als Wolfgang Wagner in seiner Autobiographie «Lebens-Akte» beschrieben hat, weiß ich darüber nicht zu berichten. Auch unter vier Augen gab es keine spektakulären Hitler-Enthüllungen, keine in den Kellern des Festspielhauses versteckten Leichen, nichts «off records», was die Welt nicht bereits wüsste. Überhaupt war Adolf Hitler für unsere tägliche Arbeit nicht von Belang. Dass die Festspiele bis heute einen gewissen Nachholbedarf haben in Sachen «Vergangenheitsbewältigung», leuchtet mir zwar ein (wie man seine Vergangenheit «bewältigt», wird mir allerdings sprachlich ein ewiges Rätsel bleiben). Und dass Wolfgang Wagner die angekündigte Ausstellung zum 100. Geburtstag seiner Mutter 1997 kurzfristig wieder absetzte, war sicher kein kluger Schachzug. Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier aber haben sich die Erforschung der NS-Zeit auf dem Grünen Hügel auf ihre Fahnen geschrieben. Zwei Historiker wurden beauftragt, mit ersten Ergebnissen ist wohl 2013 zu rechnen. Und wer weiß, vielleicht fördert der Briefwechsel zwischen «Wini» und «Wolf» ja tatsächlich noch das eine oder andere brisante Detail zu Tage.
    Als Musiker und Dirigent habe ich oft das Gefühl, dass über das sogenannte Politische eher zu viel geredet wird als zu wenig. Wie gesagt: Ich kann Richard Wagner musikalisch für den Missbrauch, den die Nazis mit seinem Werk trieben, nicht haftbar machen. Ich kann die «Meistersinger» nicht mit spitzen Fingern dirigieren – ich kann nur ganz die Finger von ihnen lassen. Manche Kollegen tun das, und das hat die Welt zu respektieren. Doch sollen wir im 21. Jahrhundert alle Vegetarier zum Teufel jagen und alle Schäferhundbesitzer ächten, nur weil es

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