Mein Leben mit Wagner (German Edition)
kapitalistisch spielen oder dirigieren. Ich kann seine außermusikalischen Kontexte kennen, und wahrscheinlich fließt diese Kenntnis in meine Interpretation mit ein. In dem Moment aber, in dem ich davon überzeugt bin, dass die Partitur, die vor mir liegt, ein Meisterwerk ist und in ihrer Vielschichtigkeit unerschöpflich, kann ich nicht weltanschaulich damit umgehen. Dann habe ich mich nach den Maßgaben dieser Partitur zu richten, dann muss ich musikalisch Farbe bekennen.
Etwas anderes ist es, sich kapitalistische, sozialistische oder faschistische Ohren aufzusetzen oder aufsetzen zu lassen – und das nehme ich denjenigen übel, die nach 1945 und vor allem nach 1968 versucht haben, Wagner durch Hitler zu «erklären». Sie wollten verhindern, dass man der Musik zuhörte, und teilweise ist ihnen das sogar gelungen. Nichts gegen die Aufarbeitung der Wagner-Rezeption, im Gegenteil. Schließlich handelt es sich dabei um eines der aufschlussreichsten Kapitel der deutschen Geistesgeschichte überhaupt, mit all seinen Abgründen, Höhenflügen und Verwerfungen. Als Musiker aber darf ich mir nicht einbilden, dass mir die Beschäftigung damit bei meiner Arbeit hilft. Die ganze Literatur von Adorno über Hartmut Zelinsky bis Joachim Köhler gibt mir nicht den kleinsten Fingerzeig für die Stärke des Chores in der Prügelfuge der «Meistersinger» oder für die richtige Dynamik im «Tristan»-Vorspiel. Das ist schön und schrecklich zugleich, tröstlich und furchtbar. Wenn der «Tristan» losgeht, zählt erst einmal nichts anderes. Das ist der Sieg der Musik.
Das Weltanschauliche bei Wagner hat mich früh irritiert. Als Heranwachsender konnte ich die Musik, die ich liebte, einfach nicht zusammenbringen mit dem, was ich über die Präsenz eines Herrn Hitler in Bayreuth hörte und las oder über die politischen Verstrickungen meiner Heroen Furtwängler und Karajan. In meinem Elternhaus ist Geschichte immer ein Thema gewesen. Außerdem war meine Mutter mit der Tochter des Klarinettisten Ernst Fischer befreundet, eines ehemaligen Orchestervorstands der Berliner Philharmoniker. Fischer hatte eine jüdische Frau und entsprechende Schwierigkeiten während des NS-Regimes. Ich spielte ihm vor, als ich sehr jung war, an einem riesigen Flügel in seiner Wohnung in Wilmersdorf. Und ich kann mich gut an die lustigen Kaffeekränzchen bei den Fischers erinnern. Die in meinen Augen steinalte Frau Fischer lud ein (vielleicht war sie um die 60), und es kamen lauter amüsante ältere Damen, die alle woanders wohnten und sehr blumige Namen hatten und Bücher von hinten nach vorne lasen. Die eine wohnte in Paris, die andere in Belfast, die dritte in Jerusalem, und alle sprachen Deutsch. Es herrschte eine unglaublich fröhliche, herzliche, aufgeräumte Stimmung. Ich weiß noch, wie ich mich darüber wunderte, dass diese Damen so viel Spaß miteinander hatten und so irrsinnig viel lachten. Manchmal wurde das Gespräch auch ernster, dann hieß es, man habe damals fortgehen müssen aus Berlin und lebe jetzt in Jerusalem, wo es sehr heiß sei und kein Wagner gespielt werden dürfe. Die Vorstellung, dass man fort müsse von zuhause, fand ich als Kind schrecklich, aber was das mit Wagner zu tun haben sollte, verstand ich nicht. Den Erwachsenen war es sicher zu kompliziert, mir das zu erklären. Jedenfalls gab es niemanden, der gesagt hätte, lass mal die Finger von dieser Musik, die ist böse. Selbst was Israel betraf, nickten sich die Damen bloß zu, jaja, die Schallplatten haben wir natürlich trotzdem alle zuhause im Schrank. Ich bin mir nicht sicher, ob mich eine ernsthafte Wagner-Warnung zu diesem Zeitpunkt, mit acht oder neun Jahren, erreicht hätte. Sobald ich im «Lohengrin» saß, war ohnehin alles wie weggeblasen. Dann gab es für mich nur noch die Musik.
Später las ich viel, auch viel Wagner-Kritisches. Dass seine Musik so umstritten sein sollte, beschäftigte mich, gerade weil ich in der Oper und in meinem persönlichen Umfeld andere Beobachtungen machte. 1976, zum 100-jährigen Jubiläum der «Ring»-Uraufführung, erschien Hartmut Zelinskys Dokumentation «Richard Wagner – Ein deutsches Thema». Die Lektüre schockierte mich, ja sie machte mich wütend. Ich fand dort zum Beispiel folgende ungeheuerliche Publikumsbeschimpfung: «Wie muß es zudem um die Kritikfähigkeit und -willigkeit einer sich für christlich haltenden Gesellschaft stehen, wenn sie es seit Jahrzehnten und auch noch im Jahr 1976 zuläßt, billigt und vielleicht
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