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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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Reinigung von diesen Affekten ein, dann sind wir geläutert. Als Zuschauer gehe ich mit den Figuren auf der Bühne durch ihr Leiden hindurch – und bin am Ende ein besserer, vernünftigerer Mensch, weil ich alles Ungebührliche, alle Leidenschaften und Emotionalitäten erfahren habe und sie also fortan besser im Griff habe. Das Verderben, das am Ende vieler Opern steht, ist auch und vor allem ein Menetekel, es nicht so weit kommen zu lassen: Don Giovanni, der zur Hölle fährt, Rigoletto, der seine Tochter Gilda ersticht, Mimi in Puccinis «La Bohème», der von Anfang an nicht zu helfen ist.
    Bei Wagner gibt es diesen Effekt auch. «Tristan und Isolde» führen einem die Katastrophe so eindringlich, so grauenhaft vor, dass man sich hinterher sagt: Ich nicht! So weit will ich niemals gehen! Aber Wagner macht noch mehr: Der Schlussakkord verhallt, der Vorhang fällt, und das Musikdrama ist nicht nur nicht zu Ende, es fängt erst an, es geht von vorne los! Der Zuschauer nimmt es mit nach Hause. Auch das gehört zum «Gesamtkunstwerk». Lebt mit, sagt Wagner, leidet mit, Zeit genug gebe ich euch dafür – aber was ihr aus dem Erlebten macht, das nimmt die Bühne euch nicht ab. Wagner legt Zündschnüre in die Zukunft und sprengt so jede Opernkonvention. Damit diese Schnüre tatsächlich zünden, braucht es Funken, eine Restglut, ein Zeichen, dass nicht alles kalt und zernichtet ist. Deshalb bleibt Alberich in der «Götterdämmerung» übrig (und vielleicht auch Hagen, sein Sohn), deshalb ergrünt der Priesterstab am Ende des «Tannhäuser», und deshalb finden sich mit Eva und Walter von Stolzing in den «Meistersingern» die beiden Richtigen. Wagner war Utopist. Bei allen Irrungen und Wirrungen, allem Nihilismus und aller Dekadenz hat er die Hoffnung niemals aufgegeben. Ich kann seinen guten Enden sehr viel abgewinnen. Denn sie betreiben ja keine Schönfärberei, sondern sagen: Das Gute überlebt – und das Böse auch.
    Keines der Wagnerschen Musikdramen endet, wie gesagt, in Moll, alle, von «Rienzi» bis zum «Parsifal», schließen in Dur. Das darf man aber nicht zu eindeutig verstehen. Dur ist nicht einfach mit fröhlich gleichzusetzen und Moll nicht mit traurig. Eine Dur-Tonart (von lateinisch «durus» = hart) hat im Gegensatz zu einer Moll-Tonart (von lateinisch «mollis» = weich) schärfere Kanten und Konturen. Sie ist unmissverständlicher. Wenn Wagner seine Welten allesamt in Dur untergehen lässt, dann spricht das auch für die Klarheit seines Blicks. Mit dieser oder jener finalen Situation haben wir uns auseinanderzusetzen, da gibt es nichts zu deuteln und nichts zu bemänteln. Auch im «Tristan» nicht, der mit einem H-Dur Akkord endet: fünf Kreuze (fis, cis, gis, dis, ais), eine Tonart, die von Hector Berlioz als «erhaben, sonor, strahlend» charakterisiert wird. Ein helles, fast gleißendes Licht ergießt sich über die Szenerie, «Rührung und Entzückung unter den Umstehenden», vermerkt das Libretto, und nach all den harmonischen Ambulanzen und konvulsivischen Taktwechseln des Liebestods kommt auch die Partitur zur Ruhe, «morendo», «rallentando», ersterbend, langsamer werdend. Drei Tote liegen auf der Bühne. Und Isolde? «Wie verklärt sinkt sie sanft in Brangänes Armen auf Tristans Leiche.» Stirbt sie auch? Ist das die schiere Katastrophe, oder glimmt am Ende nicht doch ein kleines Licht?
    Das Personal
    Wagners Personal erinnert mich bisweilen an die Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt. Sämtliche Typen sind hier vertreten: die Tumben und die Grübler, die Weisen, die Geschädigten, Tolerante und Intolerante, Machtgeile und Machtmüde, die Verzweifelten, die sich Aufopfernden, die Guten und die Bösen, Unterirdische und Überirdische, Schillernde und Einfältige, Götter, Menschen und Zwerge, alle. Das Publikum kann sich zu diesem Ensemble sehr gut in Beziehung setzen. Es spiegelt sich darin, erkennt sich wieder und setzt aus den unterschiedlichsten Facetten seine eigene Persönlichkeit zusammen. Dabei geht es, was die Stimmfächer betrifft, für mein Gefühl weniger stereotyp und konventionell zu als in der italienischen (oder russischen oder französischen) Oper, in der es über kurz oder lang immer zu Dreieckskonstellationen kommt und naive Soprane notorisch zwischen strahlenden Tenören und intriganten Baritonen stehen. Wagners Konflikte sind weiter gefasst, globaler, mythischer, was natürlich an den Stoffen liegt. Und wo der Stoff das nicht hergibt, wie in den

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