Mein Leben mit Wagner (German Edition)
einzig ein Vokalseptett.
Anläufe ins Nichts aber prägen nicht nur Wagners Anfänge. Der Weg vom «Fliegenden Holländer» zum «Parsifal» ist keine Perlenschnur, an der sich ein Meisterwerk ans nächste reiht. Wagner war ein Suchender, ein Schürfender, das schließt Querschläge und Abirrungen ausdrücklich ein. Diese heißen dann «Männerlist größer als Frauenlist oder Die glückliche Bärenfamilie» (1838), «Friedrich I.» (1846–1849), «Jesus von Nazareth» (1849), «Luthers Hochzeit» (1868) oder schlicht «Eine Kapitulation» (1870).
Warum aber wird Wagners Frühwerk so wenig beachtet? Warum hält sich ausgerechnet bei ihm die archäologische Neugier derart in Grenzen? Zeichnet sich in diesen frühen Stücken etwa keine dramatische Physiognomie ab, Figuren, Stoffe, Themenkreise, die uns immer wieder begegnen werden?
Folgende Erklärungen bieten sich an:
1. Richard Wagner war ein Kind des Geniekults. Genies aber werden als Genies geboren, sie kennen keine Wurzeln und keine Genese. Wagner jedoch hat eher als guter, phantasievoller und ein wenig abstruser Junge begonnen, als versierter Handwerker und Theaterpraktiker. Versucht man, die «Feen» und das «Liebesverbot» unvoreingenommen zu hören (was natürlich nicht geht), muss man zugeben: Es hätte auch sein können, dass aus dem jungen Sachsen nichts wird. Erst beim «Rienzi» treten das Potenzial, das er hat, und sein Wille zum Drama deutlicher zu Tage. In Wagners Anfängen spürt man – was ich sehr sympathisch finde – die Werkstatt. Selber mag er ahnen, was alles in ihm gärt, deshalb sein Mut zum Unfertigen und zum raschen Verwerfen. Der Nachwelt macht er es damit nicht leicht.
2. Wir haben uns angewöhnt, ein schöpferisches Œuvre von seinem Ende her zu beurteilen, als wäre es ein großes Ganzes, das von Anfang an auf einen imaginären Flucht- und Gipfelpunkt zusteuert. Beethovens Erste Symphonie lesen wir von der Neunten her, Schuberts frühe Lieder stehen im Bann der «Winterreise». Ich halte das für problematisch (und stehe damit ausnahmsweise auf der Seite der historisch informierten Aufführungspraktiker). Gerade Wagner hat spätestens seit der Trias «Holländer», «Tannhäuser» und «Lohengrin» ein so einzigartiges Niveau abgeliefert, dass er damit alles Zeitgenössische, sein eigenes Frühwerk inklusive, in den Schatten stellt. Insofern ist es nicht nur ungerecht, eine Grand Opéra wie «Rienzi» mit den elaborierten musikdramatischen Maßstäben einer «Götterdämmerung» zu messen – es verbietet sich geradezu. Wer es dennoch tut, wird die frühen Stücke niemals schätzen lernen. Das Bessere ist und bleibt nun einmal der Feind des Guten.
3. Auch dramaturgisch musste Wagner sich seine Sporen erst verdienen. Für unser heutiges Empfinden ist der Plot des «Holländer» zweifellos besser und stringenter als der der «Feen». Das aber hat nicht nur mit Wagner zu tun, sondern auch mit der Globalisierung des Opernrepertoires. Bis in die Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein wurden von Rudolstadt bis Reval Stücke wie Karl Goldmarks «Die Königin von Saba» oder «La dame blanche» von François-Adrien Boieldieu gespielt, Marschners «Hans Heiling» und Lortzings «Undine». Dieses Repertoire, das die sogenannte Spieloper ebenso umfasst wie Teile der deutschen romantischen Oper, fehlt uns heute. Das mag geschmackliche und stilistische Gründe haben, nicht jede Zeit eignet sich schließlich für jedes Repertoire, wobei ich Renaissancen niemals ausschließen würde. Für die Rezeption des frühen Wagner aber hat diese Entwicklung enorme Konsequenzen. Mit Stücken wie den genannten bricht eine ganze Erfahrungs-, Verständnis- und Gefühlsebene weg. Ungeduldig stehen wir vor den «Feen» oder dem «Liebesverbot» – und verstehen nichts. Oder zu wenig. Oder das Falsche.
4. Und dann gibt es noch handfeste theaterpraktische Gründe, die gegen Wagners Frühwerke sprechen. Die Gesangspartien sind allesamt sehr anspruchsvoll. Man muss also Sänger finden, die das singen können und lernen wollen, und zwar oft unter der Voraussetzung, dass am Ende nur eine oder maximal zwei Produktionen herausspringen. Warum soll ich für Webers «Euryanthe» mühsam die Eglantine von Puiset einstudieren oder den Grafen Lysiart, die mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht noch einmal begegnen werden, wenn es auch Ortrud und Telramund aus dem «Lohengrin» sein könnten? (Die musikalischen Ähnlichkeiten sind übrigens
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